Drucken
Kategorie: Film & Fernsehen

Serie: Frankfurt liest ein Buch 2013, vom 15. bis 28. April: Siegfried Kracauer GINSTER (Suhrkamp), Teil 9

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Am Film hat Bert Brecht mitgewirkt, das Drehbuch des letzten Teiles selbst geschrieben und die Musik hat Hanns Eisler den tretenden Arbeiter in die Beine komponiert. Die hier inmitten des allgemeinen sozialen Elends Ende der 20er Jahre in Berlin erzählte Geschichte zeigt das Zuhause eines doppelt und dreifach verzweifelten Arbeiterjungen.

 

Die Geschichte eines jungen Mannes und eifrigen Fahrradfahrers, der wieder trotz Bemühens keine Arbeit fand, dem der Vater erzählt, daß die staatlichen Notverordnungen nun auch noch sein Gehalt reduziere, dessen Mutter eine brave hausfrauliche Versorgerin ist, deren Vorbild wohl das kleinbürgerliche So-tun-al-ob ist, eines besseren Scheins als Seins, und dessen propere Schwester Anni – Hertha Thiele - allein in dieser Familie gegen die Verhältnisse aufbegehrt. Der Junge springt nach der väterlichen Strafpredigt aus dem Fenster: ein Arbeitsloser weniger.

 

Im zweiten Teil des Films wird diese Familie aus ihrer Wohnung geschmissen – eine Klassenjustiz gibt noch die richterliche Zustimmung dazu -, kommt in der Zeltkolonie KUHLE WAMPE am Großen Müggelsee bei Berlin beim Freund der Tochter unter. Noch im Film erfahren wir Näheres über diese Freizeitkolonie, die nun zum normalen Wohnmaß für eine vierköpfige und ältere Familie wird. Die Kolonie fing im Jahr 1913 mit 10-20 Zelten an, dort wohnen zur Filmzeit rund 300 Leute, alles ist pedantisch sauber und wird von den Bewohnern in Schuß gehalten. Was sich dann später dort ereignet, paßt gar nicht in das Sauberkeitsambiente der Kolonie.

 

Der Freund der Tochter! Diesen Fritz spielt der jungen Ernst Busch, den wir nur als Spanienkämpfer und Barde der DDR mit seinen herrlichen Liedern der 20er und 30er Jahre in Erinnerung haben. Unter der Hand wird der Film nun zu einem über die aufbegehrende Anni. Die nämlich ist von ihrem Fritz schwanger, was diesen verdrießt, er trotzdem mit ihr Verlobung feiert, was die gesamte Arbeiterschaft rund um diese Familie als kistenweise Bier saufende Tischgesellschaft der übelsten Art zeigt und einen Fritz, der seiner Anni vorhält, sie habe ihn zur Verlobung gezwungen. Anni haut ab, wird abtreiben und kann bei der Freundin wohnen.

 

Im dritten Teil nun sehen wir mit der aufbegehrenden Anni auch eine andere Arbeiterschaft. Wir sehen durch Sport gestählte Körper, die im friedlichen Wettkampf eines Arbeitersportfestes gegeneinander antreten, sich – sogar nackt - in der Natur aufhalten. Wir sehen wunderschöne Aufnahmen von Blumen und Wiesen und Wasser. Auch Fritz hat sich eines Besseren besonnen, er ist nun arbeits- und orientierungslos und will seine Anni wiederhaben, was diese goutiert. Eine heile Welt und ein Ineinswerden von Außen- und Innenwelt dieser Jugend.

 

Wir hören im S-Bahnabteil eine Diskussion zwischen den heimfahrenden Arbeitersportlern und bürgerlichen Vertretern über die Ursachen und Folgen der Weltwirtschaftskrise, deren ausgesprochene Frage, wer denn die Welt verändern könne, der Satz folgt: „Die, denen sie nicht gefällt.“, womit auch die Frage des Filmtitels, wem die Welt gehöre, beantwortet werden kann, zumal die letzten Szenen von VORWÄRTS UND NICHT VERGESSEN, dem Solidaritätslied dominiert sind, das einen noch lange nach dem Ende des Films als Ohrwurm begleitet.

 

Der Film nervt durch plakative Hinweise mit dem filmischen Holzhammer, er verstört, weil die Arbeiter - Männer, Männer, Männer und brave Frauen - hauptsächlich als kleinbürgerliche Säufer und Drückeberger dargestellt sind, er rührt einen aber auch, und er bringt einen entschieden und fundamental gegen solche gesellschaftlichen Verhältnisse auf. Da spielen sich schon beim Zuschauen die unterschiedlichsten Gefühle in einem ab, die man gerne diskutiert hätte.

 

Das kann man dann bei Kracauer nachlesen. Er schreibt am 5. April 1932 in der Frankfurter Zeitung (FZ) einen langen Artikel „'Kuhle Wampe'“ verboten'“. Er beginnt damit, daß es dieser Film sowieso schwer hatte, weil er nicht das Erzeugnis der Filmindustrie, sondern eines „kleinen unabhängigen Kollektivs“ ist und legt Wert darauf, daß es um Zweierlei geht: die Zensur und einen Film, der unter besonderen Umständen entstand, was er auseinanderhalten möchte. Schnell wird klar, warum. „Das Hauptinteresse beansprucht im Augenblick zweifellos der Bescheid der Filmprüfstelle, und ich schicke voraus, daß er schlechterdings unbegreiflich ist.“ Denn, das wird Kracauer dann ausführen, die inkriminierten Szenen sind derart nebensächlich, daß man sie wegschneiden kann und sollte, um die Aufführung möglich zu machen.

 

Die drei Verbotsgründe sind: Der Film mache den Reichspräsidenten, die Justiz und die Kirche “verächtlich“ . Kracauer weist nach, daß es sich jeweils um nebensächlichen Szenen handle. Der Reichspräsident sei mit der Notverordnung angesprochen, die der Vater dem Sohn um die Ohren haut. Als dieser aus dem Fenster springt, ist aber eher der Vater als der Reichspräsident gemeint. Die Justiz ist gemeint mit dem Richter, der einen Fall nach dem anderen gegen die mietenden Arbeiter entscheidet. Die Kirche gar ist durch Sonntagsglocken und einen Kirchturm in der Ferne gemeint, als die Jugend nackt badet. Wirklich lächerlich.

 

Aber diese Verbotsgründe machen auch deutlich, daß in der Weimarer Republik demnach nicht das Thema selbst, das Elend und die Perspektivlosigkeit der Arbeiter sowie ihre Zukunft in einer hellen gemeinsamen Welt von Sport und Solidarität zensiert werden konnte – obwohl es gerade darum in diesem Film geht. Weshalb die Nazis ihn sofort auf den Index setzten. Fortsetzung folgt.

 

INFO:

 

Siegfried Kracauer, GINSTER, Suhrkamp Verlag 2013

 

Siegfried Kracauer, GINSTER, Hörbuch, 4 CDs, Hörbuch Hamburg 2013

 

Wolfgang Schopf, BIN ICH IN FRANKFURT DER FLANEUR GEBLIEBEN...SIEGFRIED KRACAUER UND SEINE HEIMATSTADT, Suhrkamp Verlag 2013

 

Wolfgang Schopf (Hrsg.), DER RISS DER WELT GEHT AUCH DURCH MICH, Theodor W.Adorno – Siegfried Kracauer Briefwechsel 1923-1966, Suhrkamp Verlag 2008

 

Siegfried Kracauer, Werke in neun Bänden, hrsg. von Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke, ab 2004 ff, Suhrkamp Verlag

 

www.frankfurt-liest-ein-buch.de

 

www.frankfurt-liest-ein-buch.de