a nadav lapid wikipediaSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 5. September 2019, Teil  11

Redaktion

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - SYNONYMES wurde von Ihrem Aufenthalt in Paris in den frühen 2000er Jahren beeinflußt. Wie war diese Zeit für Sie?

18 Monate nach dem Ende meines Militärdienstes begann ich Philosophie an der Universität in Tel Aviv zu studieren. Ich schrieb über Sport in einer hippen Wochenzeitung und begann, Kurzgeschichten zu verfassen. Damals war Kino für mich von keinem besonderen Interesse und mein ganzes Leben erschien mir als wundervoll. Aber eines Tages, als ob eine Stimme aus dem Nichts zu mir sprach, wie bei Jean d'Arc oder Abraham, wurde mir klar, dass ich Israel verlassen musste. Und das sofort und für immer. Mich selbst aus diesem Land entwurzeln, fliehen, mich vor einem israelischen Schicksal bewahren. Zehn Tage später landete ich am Flughafen Charles de Gaulle.

Ich wählte Frankreich wegen meiner Bewunderung für Napoleon, meiner Leidenschaft für Zidane und ein paar Filmen von Godard, die ich zwei Monate zuvor gesehen hatte. Ich konnte ein wenig Französisch, hatte keine Bescheinigungen oder Visa, und ich kannte niemanden dort. Aber ich hatte mir fest vorgenommen, niemals zurückzukehren, in Paris zu leben und zu sterben. Ich weigerte mich, Hebräisch zu sprechen. Ich kappte alle Verbindungen zu Israelis. Ich widmete mich voll und ganz der obsessiven Lektüre eines französischen Wörterbuchs und ein paar banalen Jobs, um überleben zu können. Ich lebte in Armut und Einsamkeit. Ich drehte jeden Cent um. Ich aß jeden Tag das Gleiche - das Einfachste und Billigste, das ich mir leisten konnte. Eines Tages lernte ich jemanden kennen, einen französischen Freund, den besten Freund, den ich je hatte. Zwischen uns entstand eine starke Verbindung, trotz oder vielleicht gerade wegen der Unterschiede - sozial, kulturell und geistig. In meinen Augen war er der ultimative Franzose, dem ich von ganzem Herzen nacheifern wollte, während ich mit meiner napoleonischen und adoleszenten Megalomanie außerdem versuchte, ihn zu übertrumpfen.


Zu dieser Zeit entdeckten Sie auch das Kino und die Cinephilie.

Ja, danke meines Freundes und dank Paris, fing ich an, Kino als essentiell und sehr lebendig zu begreifen. Er brachte mir bei, was eine Aufnahme, eine Szene und ein Single Shot sind. Er lehrte mich, dass Kino ein Gegenstand des Nachdenkens und der Debatte sein konnte. Er zeigte mir, dass das einzige, das genauso schön ist wie ein schöner Film, die Möglichkeit ist, über diesen Film zu reden, ihn gedanklich zu zerlegen und darüber zu schreiben.

Abgesehen davon, war das Leben in Paris schwierig, besonders auf einer mentalen Ebene. Armut, Monotonie, Marginalität. Meine Fantasien über Frankreich trifteten immer weiter ab, selbst, als mein Französisch immer besser wurde. Schließlich entschied ich mich, eine Bewerbung an La Femis zu schicken, eine Schule, die mir als Zugang zu Frankreich, zum Kino und zum französischen Kino erschien. Ich wurde im letzten Bewerbungsschritt abgelehnt. Im Rückblick wird mir klar, dass ich ungenügend vorbereitet war. Just zu dieser Zeit beschloss ein israelischer Verlag, eine Sammlung meiner Kurzgeschichten zu veröffentlichen. Paris erschien mir als Sackgasse. Mit einem Gefühl von totaler Niederlage, kehrte ich Frankreich den Rücken zu und reiste zurück nach Israel.


SYNONYMES scheint mir Ihren früheren Filmen im Dialog zu stehen: Yoah ist der Name des Kindes in THE KINDERGARTEN TEACHER (2014), seine Freunde Emile und Caroline haben die gleichen Vornamen wie die ProtagonistInnen in dem Kurzfilm EMILE'S GIRLFRIEND (2006) und die ständig vorkommenden Männlichkeitsrituale schließen an POLICEMAN (2011) an. Sehen Sie jeden Ihrer Film als Teil eines Gesamtwerks an?

Selbst, wenn das nicht meine Absicht ist, werden meine Filme - Kurz- wie Spielfilme - zum Teil eines Ganzen. Sie sprechen alle die gleiche Sprache zur gleichen Musik. Natürlich gibt es taktische Variationen und Nuancen, die unterschiedliche Stadien des Lebens reflektieren. Unterschiedliche Blickwinkel und Perspektiven, Themen, die manchmal von der einen, manchmal von der anderen Seite betrachtet werden. Fast unbewußt, intuitiv, benutze ich immer wieder die gleichen Namen. Und wenn es so ist, warum es dann verheimlichen? Wenn es dieselben Personen sind, warum ihnen andere Namen geben?


Yoahs Obsession, seine Vergangenheit in Israel zu verdrängen und ein Franzose zu werden, drückt sich am stärksten über seine Sprache aus. Warum?

Ich denke, dass Sprache etwas ist, das ganz stark ein Teil von uns ist und das wir dennoch verändern können. Es ist schwierig, unseren Körper zu verändern. Die Vergangenheit kann nicht verändert werden. Yoahs Körper trägt seine Vergangenheit in sich. Er enthält die Grundzüge seines Wesens, die er so gerne verändern würde. Ich erinnere mich daran, wie ich zu dieser Zeit französische Wörter wie Gebete vor mich hin murmelte. Die französische Sprache war meine Erlösung.

Mit der Zeit wird Yoav mit dem Gegensatz zwischen seiner Fantasie von einer französischen Identität und dem wahren Leben konfrontiert. Er realisiert, dass es alles enden könnte, wie es begann: vor einer verschlossenen Tür. Seine Versuche, diesen Abgrund zu meiden, führen dazu, dass seine Sprache immer radikaler wird. Radikal im Sinne einer verzweifelten Abhängigkeit von den Wörtern, Silben, Ausdrucksweisen und Klängen des Französischen. Von diesem französischen Gebet. Worte werden wichtiger als Sätze oder Kontext. Worte rebellieren gegen ihre Bedeutung. Das ist ganz offensichtlich die charakteristische Phase während eines Zusammenbruchs.


In ästhetischer Hinsicht drücken die Straßenszenen und die wacklige Kamera, die Yoav begleitet, die in einer einzigen Einstellung von einer subjektiven zu einer äußeren Perspektive wechselt, einen Orientierungsverlust bezüglich der Realität aus...

Wie es in einem Slogan der deutschen Expressionist*innen ausgedrückt wurde - male nicht das fahrende Auto, sondern das Gefühl, das aufkommt, wenn es vorbeifährt - versucht mein Film nicht Ansichten von Paris einzufangen, sondern die Empfindungen Yoavs, oder von mir selbst, während des Laufens durch die Stadt. Yoavs Blick ist der eines Menschen, der nicht sehen möchte. Zu Beginn des Films weigert er sich, aufzuschauen und den Anblick der Seine in sich aufzunehmen, weil er nach einem anderen, intimeren, authentischen Paris Ausschau hält, nicht nach dem touristischen Paris. Er sucht nach der Stadt, die Du fühlst oder wahrnimmst, ohne sie zu sehen, ohne Deine Augen zu benutzen, wenn Dein Kopf zum Gehsteig geneigt ist und Dein Mund einen stetigen Strom von Synonymen absondert. Wie filmt man einen Blick, der nicht auf die Stadt gerichtet ist? Oder der anders auf sie blickt? Ich habe den Eindruck, dass Yoav sein eigenes Paris kreieren will, in der Hoffnung, dass er eines Tages dazugehören wird. Es ist auch mein Versuch, mein Paris zu finden, eine Stadt, die von so vielen französischen und internationalen Filmemacher*innen gefilmt wurde.

SYNONYMES zeigt ein relativ harsches Bild des französischen Bürgertums. Caroline und Emile beispielsweise sind ein eher langweiliges Paar. Sie scheinen Yoav helfen zu wollen, tatsächlich nutzen sie seine Anwesenheit, um etwas Würze in ihre Beziehung zu bringen.

Innerhalb dieses Yoav-Emile-Caroline-Dreiecks entwickelt sich eine feine, zerbrechliche Spannung zwischen persönlichen Interessen, Ausbeutung, Faszination und tatsächlicher Liebe füreinander. Diese Spannung symbolisiert auch das Verhältnis der Anziehung und Abstossung zwischen Israel und Frankreich. Yoahs Körper ist auch eine Bühne für den Kampf zwischen zentralen Werten Israels und Frankreichs. Er ist umgeben von Menschen, die entweder die eine oder die andere Seite repräsentieren. Yaron und Emile, beispielsweise. Die Vergangenheit einerseits, die Gegenwart andererseits. Yoav entwickelt sich zwischen seinem israelischen Körper und seiner französischen Sprache. Was das angeht, ist es eigentlich kein Wdass er seinen Körper quält und bekämpft.

Tom Mercier, der Yoav spielt, ist eine wahre Offenbarung. Wie haben Sie ihn gefunden? Wie haben Sie ihn auf die Rolle vorbereitet?

Tom war auf der Schauspielschule, als er zum Casting für SYNONYMES kam. Die Geschichten und Legenden, die man sich über Castings erzählt, sind fast schon ein Klischee, aber Toms Vorsprechen war wirklich eine außergewöhnliche Erfahrung, absolut unvergesslich für mich und meinen Castingleiter Orit Azulay. Selbst nach der Arbeit mit Tausenden Schauspieler*innen war er schockiert. Als Tom den Raum verliess, sagten wir die restlichen Termine des Tages ab. Wir brauchten erstmal einen Kaffee und mussten darüber nachdenken, was wir da gerade gesehen hatten. Es war nicht unbedingt die Qualität seiner Darbietung, sondern seine Präsenz - eine erstaunliche Mischung aus kompletter Freiheit und einer fast obsessiven Aufmerksamkeit für Details. Es war eine wilde, brutale, gewalttätige, sensible und brüchige Mischung. Mit einem spielerischen, verletztlichen und charismatischen Aspekt. Und einer Sexualität, die sich unmöglich klassifizieren oder einordnen lässt. Die Mischung von all diesem war tatsächlich Tom selbst.

Er hat sich total auf den Film eingelassen und bis zu einem gewissen Grad ging er durch den selben Prozess wie ich, als ich in seinem Alter in Paris war. Er lernte Französisch, indem er vollständig in die Sprache eintauchte. Er zog nach Paris und trennte sich vollkommen von Israel ab. Heute, ein Jahr nach den Dreharbeiten, lebt er immer noch in Frankreich. Ich glaube, dass mich seine großartige Kreativität, seine Verbindlichkeit und seine Erfindunsgabe am Set auf eine vitalisierende und befreiende Art inspirierten. Sie erlaubten mir, auf das Ungeplante, Unerwartete, Wilde zuzusteuern. Ich wuchs an meinem detailierten, präzisen Plan der Einstellungen einerseits und dem kompletten Mangel und Planung, den Tom verkörpert, andererseits.

Nun, mit dem fertigen Film, fühlen Sie sich, als hätten Sie Ihre Neurose überwunden, die Verletzung, die Sie mit Ihrer doppelseitigen Beziehung zu Israel und Frankreich verbindet?

Ich kann es nicht mit voller Gewißheit sagen, aber ich vermute, seine Neurosen durch Kunst mit anderen zu teilen, ist eine Form von Therapie.

Foto:
Nadav Lapid auf der diesjährigen Berlinale, wo SYNONYMES den Goldenen Bären als bester Film erhielt
© wikipedia.org

Info:
Frankreich/Deutschland/Israel 2019, 123 Minuten, französisch-hebräische OmU-Fassung und deutsche Synchronfassung,
Regie und Drehbuch: Nadav Lapid,
Kamera: Shaï Goldman,
Schnitt: Era Lapid, Neta Braun,
Kostümbild: Khadija Zeggaï,
Maskenbildnerin: Noa Yehonatan,
Produzenten: Saïd Ben Saïd (SBS Films), Michel Merkt (KNM),
KoproduzentInnen; Osnat Handelsman Keren, Talia Kleinhedler (Pie Films) Janine Jackowski, Jonas Dornbach, Maren Ade (Komplizen Film), Associate Producers: Kevin Chneiweiss, Kateryna Merkt

Darsteller:
Yoav .....................Tom Mercier
Emile ....................Quentin Dolmaire
Caroline ................Louise Chevillotte