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Kategorie: Film & Fernsehen
f synonymesSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 5. September 2019, Teil  12

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Dieser Film, der einen schon auf der Berlinale so anzog wie verstörte, bleibt auch beim weiteren Sehen ein Film, von dem man sagt: „Der hat was“. Schon der Anfang ist zweideutig und widerlegt auch zweideutig den schönen Spruch von Hermann Hesse, daß jedem Anfang ein Zauber innewohne. Denn hier wohnt dem Anfang die Irritation und der Zweifel inne.

Und setzt sich fort. Wie das im Detail alles losgeht und sich entwickelt, hatte unsere sehr ausführliche Rezension zur Berlinale in https://weltexpresso.de/index.php/berlinale-2019/15333-synonymes
ausgeführt.

Für jeden Schreiber, jede Schreiberin ist es eine Genugtuung, auch ein halbes Jahr später seine eigenen Worte noch in ihrer Gefühlsqualität nachspüren zu können. Da dort das Wesentliche beschrieben ist, haben wir uns jetzt beim Anlaufen des Films noch mit anderem beschäftigt. Denn es sind in diesem halben Jahr eine Flut von Paris-Filmen über die Leinwand gewandert. Ob Russisch, ob Polnisch, ob Amerikanisch, ob Englisch, irgendwie und irgendwo landen die Leute immer in Paris. Ganz besonders deutlich wurde das jetzt in den Erinnerungen an den Mauerfall vor 30 Jahren, als die ExDDRler gefragt wurden, wohin sie als erstes gereist seien: überwiegend, ganz überwiegend Paris!

Aber heute ist das Paris im Film und der Sehnsuchtsort der Anreisenden weniger der Eiffelturm, dessentwegen sie dort weilen. Immer mehr wird Paris nicht zum Postkartenklischee, sondern zur fremden Metropole, in der man mit Karl Valentin so richtig fremd sein kann. Denn nur unter Fremden kann man sich seinem eigenen inneren Selbst annähern, ist so eine der psychoanalytischen Theorien, zu denen Paris verführt.

Aber es gibt auch eine Realitätsebene ganz anderer Art. Europa ist der Erdteil mit den wenigsten Millionen-Metropolen. Ganze drei. Hätten Sie‘s gewußt. Es führt Moskau, so mit 25 Millionen. All die, die jetzt aufmerken und sagen: „Ja, Moskau, Rußland...aber Europa...“ erschrecken im Nachhinein, denn wir tun ja wirklich so, also ob Moskau und Rußland nicht mehr zu Europa gehörten. Und daß mit London die zweitgrößte Metropole ansteht, war auch allen klar. Stimmt aber nicht. Es ist Paris. Das wundert einen schon. Und dann der nächste Schock. Im letzten Jahr haben an die 400 000 Einwohner Paris verlassen, um so viele Menschen ist die französische Metropole kleiner geworden, so daß dann doch bald London die zweitgrößte Stadt Europas wird...

Warum das so ist, verdankt sich einem Bedeutungsverlust der französischen Hauptstadt für die Franzosen selber, hat aber auch mit dem massiven Wegzug französischer Juden zu tun, die meisten direkt nach Israel aus-, aber eben auch in die französische Provinz wandern. Es ist die islamistische Gefährdung, die zugespitzt aus der Hauptstadt vertreibt, plus der neu erwachte, weil nur schlafende Antisemitismus.

Weil wir ja auf unsere eigene Besprechung Bezug nehmen und mit Absicht das interessante Interview mit dem Regisseur vorschalteten, ist ein zusätzliches Wort zum Schauspieler Tom Mercier fällig. Wenn man nämlich die Worte des Regisseurs liest, fallen einem die vielen Beispiele im Film ein, wo der Schauspieler als Yoav die Leinwand gewissermaßen sprengt. Es ist ihm eine körperliche Nervosität anzumerken, die der Zuschauer direkt in den eigenen Knochen spürt, wie eine kleine Sprengkapsel, die gleich explodieren könnte. Er ist fiebrig entschlossen – zu Nichts. Denn die Gespannt- und Gerichtetheit trifft und tritt gleichzeitig ins Leere. Dadurch entlädt sie sich jedoch nicht, sondern läßt das Gefühl von Bedeutung und Unbehagen zurück.

Das ist eine ziemlich eigenartige Mischung und der Film gerade wegen der vagen Deutbarkeit richtig sehenswert.
 
Foto:
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Info:
Frankreich/Deutschland/Israel 2019, 123 Minuten, französisch-hebräische OmU-Fassung und deutsche Synchronfassung,
Regie und Drehbuch: Nadav Lapid,
Kamera: Shaï Goldman,
Schnitt: Era Lapid, Neta Braun,
Kostümbild: Khadija Zeggaï,
Maskenbildnerin: Noa Yehonatan,
Produzenten: Saïd Ben Saïd (SBS Films), Michel Merkt (KNM),
KoproduzentInnen; Osnat Handelsman Keren, Talia Kleinhedler (Pie Films) Janine Jackowski, Jonas Dornbach, Maren Ade (Komplizen Film), Associate Producers: Kevin Chneiweiss, Kateryna Merkt

Darsteller:
Yoav .....................Tom Mercier
Emile ....................Quentin Dolmaire
Caroline ................Louise Chevillotte