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Kategorie: Film & Fernsehen
Bildschirmfoto 2019 09 18 um 22.43.45Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 19. September 2019, Teil 5

Corinne Elsesser

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Benni ist ein unberechenbares Mädchen von neun Jahren und immer auf dem Sprung. Schon die kleinste Bemerkung, die ihr gegen den Strich geht, kann Anlass sein, auszurasten und schreiend und tobend ihrer aufgestauten Aggressivität freien Lauf zu lassen.

Das "System" von Sozialarbeitern, Therapeuten und Ärzten ist ihrem Temperament nicht gewachsen und so wird sie von Institution zu Institution, von einer Wohngruppe zur nächsten, von Heim zu Heim weitergereicht. Im Grunde aber verlangt sie nur nach Liebe, Zärtlichkeit, Aufmerksamkeit. Das ist im bürokratischen Apparat des Betreuungssystems jedoch nicht vorgesehen und Benni zeigt, dass dieses gerade an anspruchsvolleren Fällen wie ihrem scheitert. Als Lösung schlägt selbst die Betreuerin Frau Bafané (Gabriela Maria Schmiede), zu der das Kind eine Vertrauensbeziehung aufgebaut hat, die Einlieferung in eine geschlossene Abteilung vor. Eine einfache "Lösung" für einen "Systemsprenger", wie man solche Kinder intern nennt, und es soll noch einmal eine drastischere zur Sprache kommen in dem ergreifenden und packenden Film von Nora Fingscheidt.

Helena Zengel spielt dieses hyperaggressive Kind so eindrucksvoll, dass man ihr kaum abnimmt, sie stelle Benni nur dar. Lisa Hagmeister gibt ihre Mutter als eine zu nichts fähige, immer voll geschminkt das Cowboy-Weibchen mimende junge Frau, die nur ihre diversen Liebhaber im Kopf hat, für die daraus hervorgehenden drei Kinder aber keine Verantwortung übernimmt. Sie überzeugt nicht nur in der Szene, als sie sich bereit erklärt, ihre Tochter wieder zu sich zu nehmen und schon zur Besprechung im Heim zu spät kommt, um dann zu gestehen, dass sie das alles doch überfordern würde.

Michael, ein Anti-Gewalt-Trainer (Albrecht Schuch), versucht einen anderen therapeutischen Ansatz. Er nimmt Benni mit auf einen Ausflug in die Natur, wo sie sich auf einmal nützlich machen kann, beim Bauern die Milch holt und Michael beim Holzhacken hilft. Doch schnell scheitert ihre zaghafte Vertraulichkeit an der dem Therapeuten auferlegten professionellen Distanz.

Nora Fingscheidt erzählt aus der Sicht des kleinen Mädchens. Die Kamera von Yunnus Roy Imer bleibt nahe an Benni und folgt deren Ausbrüchen fast teilnehmend, immer wieder durchmischt mit graphischen Effekten. Mal zerspringt das Kamerabild, als wäre ein Stein auf die Linse geflogen, mal läuft alles in grellem Pink an, ebenso krass wie Bennis Schreien und Toben. Die Regisseurin legt nach einigen Kurzfilmen und einer Dokumentation über ein Heim für wohnungslose Frauen in Stuttgart nun ihren ersten Spielfilm vor. In seiner dokumentarischen Anmutung sensibilisiert dieser für ein Thema, das in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird. Oft arbeiten die Betreuer schwer erziehbarer Kinder an ihren Belastungsgrenzen und wenn am Ende die Ärztin Dr. Schönemann (Melanie Straub) eine Therapie in Kenia vorschlägt, führt sie die Ratlosigkeit der Beteiligten und die Unzulänglichkeit des Betreuungssystems noch einmal vor Augen.

An der diesjährigen Berlinale wurde der Film für seine neuen Perspektiven mit einem "Silbernen Bären" (Alfred Bauer Preis) ausgezeichnet. Inzwischen erhielt er eine Nominierung als bester fremdsprachiger Film für die Academy Awards 2020.

Foto:
© Verleih

Info:
Darsteller:
Helena Zengel
Lisa Hagmeister
Gabriela Maria Schmiede
Albrecht Schuch
Melanie Straub