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Kategorie: Film & Fernsehen
f unschuldigeSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 14. November 2019, Teil 6

Simon Jaquemet

Zürich (Weltexpresso) -  Gleichzeitig wurde ich als Kind oft von heftigen Schuldgefühlen und Ängsten gepeinigt. Die Schuldgefühle hatten meistens mit Tieren zu tun. Wir lebten auf einem Bauernhof und es passierte mir manchmal, dass ein Tier starb, weil ich einen Fehler machte. Ein frischgeborener Hase, der von einer Krähe gefressen wurde, weil ich die Türe zum Käfig offengelassen hatte. Oder ein kleiner Frosch, den ich liebevoll aus einer Kaulquappe aufgezogen hatte, und der bei der Freilassung im Teich nach wenigen Sekunden von einem Fisch gefressen wurde.

Meine Eltern erwähnten mal halbherzig den Tierhimmel, aber grundsätzlich war mir damals schon klar, dass diese Tiere schlicht tot waren und nie mehr zurückkommen werden. Meine größte Angst als Kind war der Atomkrieg. In den 80er-Jahren war dies eine gefühlt viel realere Gefahr als heute und wurde bei uns in der Familie öfters angesprochen. Wir wollten im Fall des atomaren Angriffs zu den Großeltern aufs Land ziehen. Aber auch hier war klar, dass es keinen wirklichen Schutz vor der Strahlung gab und wir alle elendig dahinsiechen würden. In meiner Kindheit drehten sich diese Schuldgefühle und Ängste oft nächtelang in meinem Kopf. Ich blickte in einen Abgrund und hatte nichts, woran ich mich festhalten konnte. Meine Cousins wuchsen hingegen katholisch auf. Für sie war klar, dass alles, was stirbt, in den Himmel kommt. Schuldgefühle konnten sie loswerden, indem sie beichteten. Ich beneidete sie dafür. Aber sie kannten auch eine Angst, die mir fremd war: Die Angst vor dem Teufel, der Hölle und dem Fegefeuer. Diese ambivalente Haltung der Religion gegenüber habe ich noch heute. Einerseits stehe ich hinter der Aussage, dass Religion eine kollektive Wahnvorstellung ist, eine leicht durchschaubare Strategie, den großen Fragen und Ängsten, die alle Menschen beschäftigen und plagen, mittels einer abstrusen Fiktion beizukommen.

Zugleich ist die Religion die tödlichste Erfindung der Menschheit. In den letzten Jahrhunderten wurden geschätzt zwischen fünfzig und hundertfünfzig Millionen Menschen im Namen der Religion ermordet. Auf der anderen Seite spüre ich auch manchmal die Sehnsucht, mich in eine Weltsicht fallen zu lassen, die mir die Antwort auf alle Fragen verspricht. Bei meinen Recherchen habe ich intelligente Menschen kennengelernt, die den Glauben an Jesus durch und durch und ohne Zweifel zu zulassen, für sich angenommen haben. Die Ausgeglichenheit und Sicherheit, die diese Menschen ausstrahlen, ist nicht gespielt.

Daneben gibt es aber noch etwas Anderes. Obwohl ich mich als rationalen Menschen bezeichne, kenne ich (auch ohne toxische Substanzen) Momente von Transzendenz. Der Aussage, dass eine Lebenskraft oder ein Bewusstsein unser Universum durchströmt, würde ich nicht widersprechen. Vielleicht ist es kein Zufall, dass doch die meisten Menschen intuitiv so etwas wie einen Gott voraussetzen. Es reicht ja schon, sich vor Augen zu führen, dass man genau jetzt in diesem Moment ganz real lebt. Nicht als Traum oder als Illusion. Sondern als sich selbst in diesem einen Leben, und schon entsteht – zumindest bei mir – das metaphysische Kribbeln.

Neben dem religiösen Glauben durchdringt eine andere Art von Glauben unsere Realität. Unser Leben scheint uns in den meisten Momenten relativ geordnet und vorhersehbar. Wir fühlen uns zumindest in Westeuropa sehr sicher und machen uns vor, dass wir die Kontrolle haben und unsere Fragen beantwortet werden. Dem ist aber nicht so. Unser Leben kann in jeder Sekunde enden. Ob der geliebte Partner, der gerade zur Türe hinausgegangen ist, je wiederkommt, wissen wir nicht. Wir klammern uns an Wahrscheinlichkeiten und Erfahrungswerte. Den Abgrund, über dem wir balancieren, blenden wir aus. Wir glauben, dass wir morgen noch am Leben sein werden. Wenn wir uns entscheiden, an etwas zu glauben, wird es Realität. Erst wenn wir mit fundamentalen Lebensereignissen konfrontiert werden, die unser Konzept von Realität in Frage stellen, sehen wir den Abgrund. Meine Protagonistin wurde als junge Frau mit einer fundamentalen Ungewissheit konfrontiert. Sie wusste nicht, ob ihr Geliebter ein Mörder ist. Und er selbst, der einzige, der ihre Frage hätte beantworten können, war unerreichbar im Gefängnis. Aus dieser Leere heraus wandte sie sich dem Glauben zu, der sie zwanzig Jahre lang eingehüllt hat, bis die Unsicherheit in Gestalt von Andreas wieder auftaucht und ihr Glaubenskonstrukt ins Wanken bringt.

Ich fordere die Zuschauer in ihrem eigenen Glauben heraus. Nebst der realistischen Lesart, dass Andreas eine reale Person ist, biete ich auch eine zweite Lesart an, in der er ein Geist oder eine Personifizierung von Ruths Wünschen ist. Das vorliegende Drehbuch und der daraus entstehende Film sind das nicht abschließende Ergebnis meiner persönlichen Auseinandersetzung und meiner Recherchen. Viele Vorurteile, die ich selbst gegenüber gläubigen Menschen hatte, sind ins Wanken geraten. Daher ist mir wichtig, dass der Film der Komplexität der Thematik gerecht wird und sich nicht auf eine banale Aussage reduzieren lässt - würde ich mich dem Massenmedium Film bedienen, nur um eine vereinfachte Botschaft oder Lebensweisheit zu verbreiten, so wäre das zumindest anmaßend oder gar genauso anstößig, wie die Methoden der Freikirchen, die ihre simplen Antworten per Lautsprecher und Videowall an die Massen bringen. Der Film gibt also keine Antwort auf die Fragen, die unbeantwortet bleiben müssen. Er stellt selber eine Frage. Was glauben Sie?

Foto:
© Verleih

Info:
Darsteller
Judith Hofmann - Ruth
Naomi Scheiber - Naomi
Christian Kaiser - Hanspeter
Thomas Schüpbach - Andreas
Anna Tenta - Meike
Urs-Peter Wolters - Paul

Regie: Simon Jaquemet
Buch: Simon Jaquemet