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Kategorie: Film & Fernsehen
f petrSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 14. November 2019, Teil 24

Redaktion

Skopje (Weltexpresso) -  Wie kommen Sie auf diese Geschichte?

In einigen orthodoxen Ländern Osteuropas, in Bulgarien, Russland, Rumänien, Serbien und Nordmazedonien, wird alljährlich zum Dreikönigsfest am 19. Januar ein Kreuz in ein Gewässer geworfen. Als 2014 in der ostmazedonischen Stadt Štip eine Frau das Kreuz ergatterte, wurde dies von der lokalen Bevölkerung und dem Klerus als ein Frevel erachtet. Tatsächlich ist es Frauen nicht erlaubt, an der Veranstaltung teilzunehmen. Deshalb versuchte man, ihr das Kreuz wegzunehmen, aber sie wollte nicht klein beigeben. Am nächsten Tag gab sie einem lokalen Sender ein Interview und rief darin andere Frauen dazu auf, in Zukunft nach dem Kreuz zu springen. Von der Bevölkerung wurde sie als verrückte, gestörte, problematische junge Frau bezeichnet.

Für mich und meine Produzentin Labina Mitevska offenbarten diese Reaktionen einen natürlichen Reflex des sozialen Konformismus und sie entlarvten auch die Frauenfeindlichkeit, die von den tief verkrusteten patriarchalischen Normen in unserer Gesellschaft getragen wird. Es war frustrierend und zum Verrücktwerden. Petrunyas Geschichte entstand aus unserer Frustration, wir mussten reagieren.


Denken Sie, dass Sie einen feministischen Film gedreht haben?

Alle patriarchalischen Gesellschaften sind so aufgebaut, dass sie die männliche Herrschaft unterstützen, indem die Männer den Status der Frau und den sozialen Raum bestimmen. Wann immer also eine Geschichte über oder rund um das sogenannte zweite Geschlecht erzählt wird, handelt es sich deshalb zwangsläufig um einen feministischen Film. Ob mit oder ohne weiblichem Charakter in der Hauptrolle: Jeder Film, der die Thematik nicht entsprechend dem traditionellen Rollenverständnis behandelt, ist ein feministischer Film.

Es fällt schwer, mir vorzustellen, eine Frau und keine Feministin zu sein. Feminismus ist keine Krankheit oder etwas, wovor man Angst haben muss. Gleichberechtigung, Gerechtigkeit und Fairness sollten für alle Frauen im Vordergrund ihrer Ideologie stehen.


Könnte man den Film als den Kampf der Tradition gegen die Moderne betrachten?

Stellen Sie sich vor, die Tradition wäre ein Sack Salz (Salz ist für das menschliche Leben unentbehrlich), der durch einen großen, tiefen, starken Wasserstrom getragen werden soll, der in dieser Konstellation die Moderne repräsentiert. Was passiert? Das Salz wird sich auflösen und der Mensch der das Salz trug wird ertrinken, und was dann?

Wenn diese Geschichte in einem Büro geschehen und davon handeln würde, die Glasdecke zu durchbrechen, dann wäre das Ganze eindeutiger, aber da sie im traditionellen Umfeld einer kleinen mazedonischen Stadt angesiedelt ist, wird die Angelegenheit komplexer. Petrunya widersetzt sich als Symbol der Moderne nicht nur einer, sondern zwei Institutionen: der Kirche und dem Staat. Gegenüber beiden ist sie machtlos, doch hoffentlich ist Bildung ihre Rettung. Ich habe keine Antwort darauf, wie man Tradition und Moderne in Einklang bringt, und auch nicht darauf, welchen Rang Tradition in der Zukunft einnimmt. Mich beschäftigt, wie die Tradition angepasst werden kann, um beispielsweise das zweite Geschlecht gleichberechtigter einzubinden.


Petrunya wirkt zu Beginn eigentlich schwach und hilflos, aber sie zeigt im Lauf des Films zunehmend Stärke, als das ganze Dorf sich gegen sie stellt. Woher nimmt sie diese Energie?

Ich habe immer an die Idee einer universellen Wahrheit geglaubt, an das Ideal als etwas, nach dem alle Menschen bewusst oder unbewusst streben. Die sozialen oder kulturellen Umstände von Ort und Umgebung, in die wir geboren werden und in denen wir aufwachsen, prägen uns, definieren uns aber nicht. Ich bin fest davon überzeugt, dass Frauen grundsätzlich empfindlicher auf Ungerechtigkeit reagieren, vielleicht, weil wir in eine ungerechte und ungleiche Welt geboren wurden. Wir sind von klein auf dazu gezwungen worden, uns selbst, unsere Existenz, unsere Bestimmung und unsere Rolle zu rechtfertigen. Frauen befinden sich in einem ständigen Modus der Veränderung, und die Veränderung führt zu unbegrenzter Selbstüberschreitung, der Notwendigkeit, besser zu werden und es besser zu machen. Ich bin nicht die Erste oder Letzte, die das sagt, Simone de Beauvoir hat es bereits getan.

Ich sage nicht, dass Petrunya sich all dessen bewusst ist, aber als ein Mitglied der am längsten und meisten verfolgten Mehrheit in der Geschichte der Menschheit weiß sie es sicherlich unbewusst. So übertrifft sie sich im Lauf der Ereignisse, durch die Hindernisse, die ihr in den Weg gelegt werden, auf ihrer Suche nach Gerechtigkeit. Ja, anfangs ist sie schwach, oder wie ich sie lieber beschreiben würde, still, und mit Elma Tataragić (Koautorin) habe ich intensiv darüber diskutiert: Soll Petrunya eine starke Figur wie die Journalistin Slavica sein, oder soll sie sich im Lauf der Geschichte verändern? Wir haben uns für Letzteres entschieden, weil Veränderung positiv ist. Sicher ist, dass sie ihre Situation dazu bringt, nach der Wahrheit zu suchen, und letztendlich verleiht ihr dieses Bedürfnis nach Gerechtigkeit die Kraft, aus ihren bescheidenen Anfängen zu dem zu werden, was sie wirklich ist: eine eigenständige Frau und eine Triebkraft der Veränderung.


Slavica, die Journalistin, ist eine weitere starke Figur in Ihrem Film. In welche Beziehung zu Petrunya stellen Sie sie?

Ich war in meinem früheren Leben Journalistin, und ich habe den Verdacht, dass ich für Labina (meine Produzentin, die auch die Rolle der Slavica spielt) als Inspiration diente, als sie an ihrer Figur arbeitete. Selbstverständlich wurde ich die meiste Zeit meines Lebens eine Hexe, ein penetrantes und arrogantes Miststück genannt. Noch heute ist es sehr schwierig, auf dem Balkan als starke Frau tätig zu sein. Du wirst dann sofort als aggressiv wahrgenommen. Als ich die Figur der Slavica schuf, war meine Hauptidee die Solidarität, die Schwesterlichkeit zwischen den beiden Frauen, zwischen Petrunya und ihr. Es gibt so viele Möglichkeiten, das Thema Veränderung anzugehen, wie es verschiedene Charaktere gibt, aber es gibt nur einen Weg, um diese Veränderung zu erreichen, und zwar durch Zusammenhalt. Und hier kommt das gute alte Dilemma zwischen individualistischem und sozialem Feminismus. Ich weiß, dass viele Menschen ein Problem mit der #MeToo-Bewegung haben, hauptsächlich, weil dahinter keine Ideologie steht, aber wir haben definitiv daraus gelernt, dass, wenn die Idee von einer geeinten Front übernommen wird, Veränderung möglich und Solidarität entscheidend ist.


Erzählen Sie uns von der gewalttätigen Beziehung zwischen Mutter und Tochter.

Das Verhältnis von Moderne und Tradition entspricht der Beziehung von Petrunya und ihrer Mutter Vaska. Die beiden Frauen besetzen in dieser Hinsicht die gegenüberliegenden Enden des Spektrums. Der Zusammenstoß der beiden ist unvermeidlich und für den Fortschritt notwendig. Die Legende sagt: „Wer auch immer das Kreuz ergreift, wird über das kommende Jahr glücklich sein.“ Petrunyas Streben nach Glück stützt sich auf ihre Teilnahme an der traditionellen Zeremonie und der damit verbundenen Freude für ein Jahr. Die Mutter kann dies nicht verstehen, sie kann das Glück nicht außerhalb der traditionellen Codes definieren. Die Gewalt zwischen beiden ist in etwas viel Tieferem und Finsterem verwurzelt: Ungerechtigkeit, die als Tradition verkleidet ist. Wenn die Mutter das Verhalten von Petrunya akzeptieren würde, würde sie alles verleugnen, was sie ist und was sie jemals war, und sie würde in den Augen ihrer Gesellschaft zu einem Nichts werden.


Wie stehen die Chancen für Petrunya, nach diesem Ereignis ihren eigenen Platz in der Gesellschaft zu finden, in der sie lebt?

Ich habe gehört, dass das Mädchen, das das Kreuz im echten Leben gefangen hat, jetzt in London wohnt... Ehrlicherweise wäre ihr Leben sehr schwierig gewesen, wenn sie in Štip geblieben wäre. Ich bin froh, dass sie die Möglichkeit hatte, wegzuziehen. In diesem Jahr erwischte eine Frau das Kreuz in Zemun in Serbien. Sie wurde gefeiert. Die Welt verändert sich schnell, hoffentlich!


BIOGRAFIE TEONA STRUGAR MITEVSKA
Regisseurin Teona Strugar Mitevska wurde 1974 in Skopje, Nordmazedonien, in eine Künstlerfamilie geboren. Schon als Kind trat sie als Schauspielerin auf, später studierte sie Malerei und Grafikdesign und absolvierte danach das Master of Fine Arts Program Film an der Tisch School of Arts in New York. Ihr Debütkurzfilm VETA gewann einen Jurypreis bei der Berlinale 2002. Seitdem ist sie mit ihren Langspielfilmen regelmäßig auf Festivals zu Gast.

Filmografie
2001 - Veta (Kurzfilm)
2004 - How I killed a Saint
2009 - I am of Titov Veles
2012 - The woman who brushed off her tears
2017 - When the Day had no Name
2019 - God Exists, Her Name Is Petrunya


Foto:
© Verleih

Info:
GOTT EXISTIERT, IHR NAME IST PETRUNYA (OT Gospod postoi, imeto i' e Petrunija)
Mazedonien / Frankreich / Belgien / Slowenien / Kroatien 2019
Laufzeit: 100 Minuten / D / 2019 / DCP / 16:9 Farbe
Kinostart: 14. November 2019

Darsteller
Petrunya: Zorica Nusheva
Journalistin Slavica: Labina Mitevska
Chefinspektor Milan: Simeon Moni Damevski
Priester: Suad Begovski
Junger Offizier: Stefan Vujisic
Mutter Vaska: Violeta Shapkovska
Kameramann: Xhevdet Jashari

Regie: Teona Strugar Mitevska
Drehbuch: Elma Tataragić & Teona Strugar Mitevska

Abdruck aus dem Presseheft