hol Die Gotter von MolenbeekEindrücke vom doxs!-Festival 2019 in Duisburg

Holger Twele

Duisburg (Weltexpresso) - Dokumentarfilme konnten in den vergangenen Jahren hohe Zuwachsraten verzeichnen. Das gilt für Festivals genauso wie für die Kinostarts in Deutschland. Bereits fast jeder dritte Film kann dieser Gattung zugeordnet werden. Dank des doxs!-Festivals im Rahmen der Duisburger Filmwoche haben auch Dokumentarfilme für Kinder und Jugendliche ihr Mauerblümchendasein längst hinter sich gelassen.

Zugleich verwischen die Grenzen zum Fiktionalen immer stärker, was die Bezeichnung „dokumentarische Formen“ zutreffender macht. Wie wichtig gerade die formale Umsetzung eines Themas ist, zeigte einmal mehr die 18. Ausgabe des Festivals in seiner Programmauswahl und mehr noch anhand der preisgekrönten Filme.

Der zum vierten Mal in Duisburg vergebene ECFA Documentary Award ging an den niederländischen Film „Champ“ von Cassandra Offenberg. Er porträtiert die 14-jährige Kickboxerin Esma, die trotz mehrerer Niederlagen nicht aufgibt und alles daran setzt, um Champion zu werden. Das Mädchen mit Migrationshintergrund ist gleichermaßen sensibel und verletzlich, aber auch hart im Nehmen und hat sich die Mutter zum Vorbild genommen, die wegen einer schweren Erkrankung um ihr Leben kämpft. Nach dem Young Audience Award der Europäischen Filmakademie für den themenverwandten niederländischen Spielfilm „Fight Girl“ von Johan Timmers und der beim Bundesfestival Film ausgezeichneten Schülerproduktion „Box dich durch!“ gibt es damit binnen eines Jahres gleich drei Preisträgerfilme über kickboxende junge Frauen – fast schon ein Trend. Was „Champ“ allerdings für die Leinwand so besonders macht, ist seine formale Gestaltung. Eingesetzt wurden drei unterschiedliche Filmformate, eine digitale Kamera für die dokumentarischen Aufnahmen, ein grobkörniger 16mm-Film für die Traumwelten des Mädchens sowie Aufnahmen mit dem Smartphone aus der subjektiven Perspektive.

hol ChampNicht minder bemerkenswert gerade in ihrer formalen Gestaltung waren weitere Filme des Wettbewerbs um den ECFA-Preis. In „Jesús aus Mexiko“ aus der Reihe „199 kleine Helden“ von Lina Luzyte erzählt der elfjährige Protagonist Geschichten über Umweltverschmutzung, Gewalt, Entführung und Mord aus seinem Alltag, wobei die ruhigen, fast idyllisch wirkenden Bilder als harmonisierender Kontrapunkt dienen und die Geschichten für Kinder verkraftbar machen. Der Norweger Halvor Nitteberg greift in „Es braucht Zeit“ zum Stilmittel von ausdrucksstarken Schwarzweißfotos, um sich der Trauer einer 18-Jährigen über den Tod ihrer Schwester zu nähern. Dass das Internet und Social Media keineswegs nur zum Cybermobbing missbraucht werden können, sondern sogar sehr hilfreich sind, wenn man selbst gemobbt wurde, veranschaulicht Eelf Hilgers in „#mobbinggeschichte“ auf Mut machende Weise. Denn der Film über die 13-jährige Rosalie, die nach Mobbingattacken am Boden zerstört war, begleitet das Mädchen auf ihrer Internetsuche nach Gleichaltrigen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben und zeigt, wie es ihnen gelingt, den Glauben an sich selbst zurückzugewinnen.

Formale Aspekte haben auch im Wettbewerb „Große Klappe“ und beim von der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb gestifteten europäischen Filmpreis für den besten politischen Kinder- und Jugenddokumentarfilm den Ausschlag gegeben. Er wurde von einer Jugendjury ausgesucht und ging an die tschechische Produktion „Spolu sami – Zusammen allein“ von Diana Cam Van Nguyen. Die Studentin an der tschechischen Filmakademie wählte für ihren Film über drei befreundete junge Menschen, die einen Elternteil verloren haben und offen über ihre Gefühle des Verlusts und der endgültigen Trennung von einem geliebten Menschen reden, das ästhetische Mittel der Animation – bis am Ende alte Familienaufnahmen aus glücklichen Tagen als Realfilm zu sehen sind. Die Jugendjury hob besonders die Bildgestaltung hervor: „Mit einer malerischen Animation bringt der Film die Hilflosigkeit der Protagonist*innen zum Ausdruck und verstärkt ihre Erzählungen durch das gelungene Hervorheben einzelner Details. Manche Szenen arbeiten mit einer subjektiven Kameraführung, die das Publikum die Panik und Hilflosigkeit emotional spüren lässt, als wäre es Teil des Szenarios. Dabei konzentriert sich die Filmemacherin auf die Erlebnisse der Protagonist*innen und verzichtet bewusst auf den manipulativen Einsatz von Musik.“


hol 2Zusammen alleinHinzuweisen ist unbedingt noch auf zwei weitere Glanzlichter des Festivals. Die 25-minütige Kurzfassung des Kinodokumentarfilms „Die Götter von Molenbeek – Aatos und die Welt“ der finnischen Filmemacherin Reetta Huhtanen beobachtet mit der Kamera ihren im Brüsseler Stadtteil Molenbeek wohnenden sechsjährigen Neffen Aatos, seinen muslimischen Freund Amine und seine Schulkameradin Flo bei ihren Spielen und ihren Gesprächen über Gott und die Welt sowie ihre Reaktionen nach den Terroranschlägen 2016, durch den der Stadtteil in Verruf geraten ist, die Freundschaft der Kinder aber Bestand hat. Die speziell für ein junges Publikum gedachte Kurzfassung dieser Langzeitdokumentation erhielt den erstmals vergebenen Preis für den besten fremdsprachigen Kinderdokumentarfilm bei doxs! der „Selbst.Los! Kulturstiftung – Annelie und Wilfried Stascheit“.

Foto „Aatos und die Welt“

hol Der letzte seiner ArtIm abendfüllenden niederländischen Dokumentarfilm „Der letzte seiner Art“ von Floor van der Meulen tauchen Kinder überhaupt nicht auf und der vermeintliche Protagonist des Films ist ein über 40 Jahre alter Bulle. Das letzte männliche nördliche Breitmaulnashorn ist bereits dem sicheren Tod geweiht, was unübersehbar durch einen Countdown von verbleibenden Tagen angedeutet wird. Das Festival hat sich entschieden, diesen Film ins Programm von doxs! zu nehmen, weil er Jugendliche nach Testläufen offenbar besonders anspricht und das Thema des Artensterbens und der am Verschwinden begriffenen Diversität die Zukunft der jungen Generation bestimmen wird. Ein geschickt montierter Film, der nur auf den ersten Blick einfach und geradlinig wirkt, das Artensterben aus ganz unterschiedlichen und teils überraschenden Blickwinkeln beleuchtet und zum wiederholten Nachdenken herausfordert, gerade auch, weil der Bulle am Ende so gut wie keine Rolle mehr spielt.

Foto „Der letzte seiner Art“ (ggf. mit Querverweis zum Interview mit Floor van der Meulen)


Fotonachweis: doxs!-Festival Duisburg
http://www.do-xs.de