wpo 2020 0018 ORGZum Start der Berlinale 2020 (1)

Hanswerner Kruse & Hannah Wölfel

BERLIN (Weltexpresso) - In wenigen Tagen werden die 70. Berliner Filmfestspiele beginnen, die Berlinale feiert ihr Jubiläum. Bereits vor einigen Wochen stellte die neue Leitung, Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek, die Wettbewerbsbeiträge für die Gold- und Silberbären auf der traditionellen Pressekonferenz vor.

Doch die Stadt ist noch nicht im Bärenfieber, die Medien beschäftigen sich eher mit den neu geborenen Panda-Bären im Zoo. Es fehlen die Plakate, auf denen die Pelztiere durch die Nacht streifen, S-Bahn fahren oder Models Bärenköpfe absetzen. Stattdessen wirbt ein lebloses grafisches Sammelsurium für die Berlinale. Der kurz aufgebauschte „Skandal“ um die Nazi-Vergangenheit des ersten Festivalleiters Alfred Bauer ist kein Thema mehr: Das werde durch unabhängige Wissenschaftler untersucht, meinte Rissenbeek bereits auf der Pressekonferenz.

„Wir wollen nicht die Berlinale verändern sondern weiterführen, sie ist ein Geschenk, das wir bekommen haben“, erklärten der künstlerische Leiter Chatrian und die Geschäftsführerin Rissenbeek, „aber wir möchten neue Ideen aufgreifen.“ Dazu gehört die neue kompetitive Sektion „Encounter“, sowie die Auseinandersetzungen mit der Digitalisierung und dem Serienboom. Wer nach dem Abschied des langjährigen Festivalchefs Dieter Kosslick dramatische Veränderungen erhoffte oder befürchtete, wurde enttäuscht oder war erfreut: Statt 400 Filme wie bisher wurden zwar nur 340 für alle Sektionen ausgewählt. Doch dieser Straffung läge kein Konzept gegen die von Kritikern behauptete „Ausuferung“ vor, sagte Chatrian dieser Zeitung, demnächst könnten es wieder mehr werden.

Die neue Leitung erschien mit 21 - zum Teil langjährigen - verantwortlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der verschiedenen Sparten. Damit wollten sie deutlich machen: „Wir sind ein Kollektiv!“ Zugleich symbolisierte der Auftritt die künstlerische Spannweite des Festivals von engagierten Kinder- und Jugendfilmen bis zu radikalen künstlerischen Experimenten. Denn der alljährliche Hype um den Bären-Wettbewerb ist ja nur die Spitze des Eisbergs Berlinale.

Daneben laufen neue interessante Spiel- und Dokumentarfilme in der „Perspektive Deutsches Kino“, im „Panorama“, in Gala-Vorstellungen und für junge Leute in „Generation“. Alte Streifen bringt die „Retrospektive“, extrem anspruchsvolle avantgardistische Werke zeigt das „Forum“, das sein 50. Jubiläum feiert. Die Filme in der neuen Sektion „Encounter“ werden, so Chatrian, „mit ungeahnten Ideen, Visionen und Erzählweisen für Überraschungen sorgen.“  Quasi unterhalb der Preisbären gibt es in etlichen Sparten ebenfalls Jury- und Publikumspreise. Jedoch sehen sich die Verantwortlichen nicht als Richter, sondern als „Gastgeber und Brückenbauer.“

Wie immer werden viele Kinoverrückte vor den Schaltern in den Arkaden am Potsdamer Platz übernachten, um ihre Wunschtickets zu ergattern. 350.000 zahlende Zuschauer im letzten Jahr bewiesen das Interesse an sämtlichen Sektionen des Festivals. Dem Publikum geht es nicht um einen Vergleich mit den elitären Großveranstaltungen in Venedig und Cannes, der immer gerne von Kritikern angestellt wird. Denn dort sind die Promis unter sich, das Volk hat keinen Zutritt - die Berlinale dagegen ist das größte Publikumsfestival der Welt. Seit 20 Jahren ist es am Potsdamer Platz konzentriert, findet aber auch in größeren Sälen wie dem Zoo-Palast statt und als „Berlinale Goes Kiez“ in kleineren Programmkinos.

Viele Stars und Filmschaffende werden den Berlinale-Palast und andere Spielstätten besuchen, sich unter das Publikum mischen und mit ihm diskutieren: „Kino ist für die Träume da, es braucht den Glamour“, meinte Chatrian, „aber das Publikum will mehr haben!“

Kommentar:
Der Mitbegründer und langjährige Leiter der Berlinale, Alfred Bauer, war ein Nazi! Für manche Kritiker ist das plötzlich ein Skandal. Aber seit vielen Jahren ist bekannt, dass der Mann Mitglied der Reichsfilmkammer und demnach ein Nazi war. Wie die ZEIT pünktlich zum 70. Jubiläum recherchierte, war seine Verstrickung mit dem NS-Regime vermutlich größer als bisher angenommen. Externe Wissenschaftler sollen das jetzt untersuchen, aber eins ist klar:
Die Geschichte Bauers hat nichts mit der Qualität der Berlinale und ihrer Entwicklung zu tun.

Foto: 
Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek (c) Alexander Janetzko / Berlinale 2019