Drucken
Kategorie: Film & Fernsehen
wpo Schlingensief In das Schweigen hineinschreien RGB 2Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 20. August 2020, Teil 3

Hanswerner Kruse

Berlin (weltexpresso) - Der Film „Schlingensief - in die Welt hineinschreien“ wurde im Frühjahr bei der 70. Berlinale uraufgeführt, doch Corona verhinderte den geplanten Kinostart. Nun kommt der Streifen über den vor zehn Jahren gestorbenen Künstler - zu seinem Todestag dem 21. August - in die Kinos.



Bereits nach der Premiere wurde diese Dokumentar-Montage heftig kritisiert: Von Leuten, die Christoph Schlingensief (1960 - 2010) als Kunstschaffenden wohl kaum kannten oder seine Herausforderungen nicht begriffen. Dabei ist dieser Film eine hervorragende, wenn auch nicht einfache Chance, die Entwicklung des Kino-, Theater- und Opernregisseurs, Schauspielers und Aktionskünstlers nachzuvollziehen. Regisseurin Bettina Böhler lässt den späten Schlingensief erzählen und illustriert sein grenzüberschreitendes Arbeiten und Leben mit Filmausschnitten, Clips seiner Theaterstücke und politischen Aktionen, privaten Aufnahmen und frühen Statements.

Bereits als Achtjähriger, später als Jugendlicher drehte er Super-8-Filme. „Wer solche Filme macht, kann die Menschen nicht lieben“, schwafelte ein Lokalredakteur über einen dieser Streifen. Doch durch das gesamte Oeuvre des Künstlers zieht sich sein Bemühen, geflüchteten, behinderten oder als verrückt etikettierten Menschen eine Stimme zu geben. Liebevoll, aber nicht ausbeuterisch und prekär, holte er Ausgegrenzte auf die Bühne: Etwa im Bundestagswahlkampf 1998 in den ernstgemeinten Aktionen der „Chance 2000“ oder er arbeitete für sie in der Hamburger Bahnhofsmission.

Bereits seine ersten professionellen aber bitterbösen Filme liefen in den 1980er-Jahren erfolgreich im Fernsehen: In „Die letzten Tage im Führerbunker“ drückte Hitler nach dem Kacken (oder Defäkieren) seinen Hintern an die Wand und feierte das Resultat als Kunst. Lächerlicher kann man den Führer nicht desavouieren. Im „Deutschen Kettensägemassaker“ zeigte er, wo viele geflüchtete Ossis geblieben waren, die nicht im goldenen Westen ankamen: Sie wurden von westdeutschen Metzgern zersägt und verwurstet - was für eine geniale sarkastische Metapher.

„Man muss den Nazi-Kram abnutzen“, meinte er dazu, bekannte später aber auch, manches würde er heute nicht mehr so machen. Das gilt sicher nicht für seine Inszenierungen, in denen er die Grenzen zwischen Kunst und Leben radikal aufriss, „Soziale Skulpturen“ im Sinne von Josef Beuys schuf: Beispielsweise ließ er bei den Wiener Festspielen 2000, nach dem Vorbild von „Big Brother“, Flüchtlinge aus einem Container rauswählen und (scheinbar) abschieben. Das brachte wütende Linke und Rechte gegen ihn auf.

Nach seinem erfolgreichen Arrangement des „Parzivals“ bei den Bayreuther Festspielen (2004 - 2007), wurde er krebskrank und machte dafür öffentlich seine Überforderung durch die Opernarbeit verantwortlich. Im letzten Teil seines Lebens wurde er nun noch radikaler als je zuvor: zeigte seine Ängste, seine Krankheit, sein Sterben. Was manchen oberflächlichen Kritikern nicht mehr war als „laute und schrille Selbstinszenierung“, waren Einladungen an das Publikum, sich mit ihm auf eine unbekannte Reise einzulassen, die nichts mit Nabelschau und Narzissmus zu tun hatte: „Ein Mann vergesellschaftete seine Angst; er stellte sie uns wie einen Überschuss an Wärme zur Verfügung", meinte die ZEIT.

Schlingensief war in seinem letzten, tief berührenden Stück „Mea Culpa“ keineswegs larmoyant, sondern spielte auch sarkastisch mit Sterbekitsch und Todesdramatik. Überhaupt hatte er viel Humor und konnte über sich selbst lachen - obwohl seine Prämisse hieß: „Angst ist der Boden in allem was ich mache!“

Bereits als Todgeweihter kümmerte er sich noch um das von ihm mitgegründete Operndorf in Burkina Faso. Es wurde ein Ort interkultureller Begegnung sowie des postkolonialen Diskurses, aus dem neue Afrikabilder entstehen.

Die Hassliebe des Künstlers zu Deutschland wurde mit Anerkennung erwidert: Er bekam Professuren angeboten, erhielt internationale Preise und große Ausstellungen. Das alles und noch viel mehr kann man in diesem sehenswerten Film erfahren.

Foto:
© Filmgalerie 451

Info:
„Schlingensief - in die Welt hineinschreien“ D 2020, 124 Minuten. Regie Bettina Böhler, mit Christoph Schlingensief und vielen seiner Weggefährten und Kritikern