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Kategorie: Film & Fernsehen
f obskureSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 20. August 2020, Teil 2

Corinne Elsesser

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Auf einer Zugfahrt wird die Verlegerin Helga Pato (Pilar Castro) plötzlich mit den ineinander verwobenen Geschichten konfrontiert, die ihr ein Mitreisender erzählt, der sich unverblümt ihr gegenüber gesetzt hat. Er sei Psychiater, meint er, sein Name Ángel Sanagustín (Ernesto Alterio) und er wolle ihr, da die Fahrt noch lang sei, einige seiner Fälle schildern.

Schon gerät ein riesiger Berg aus bunten Müllsäcken in den Blick, die auf dem Nachbargrundstück des Psychiaters himmelhoch aufgetürmt sind. Davor steht er selbst. Müllsäcke spielen in seinem ersten Fall eine Rolle, als nämlich Martin Urales de Úbeda (Luis Tosar), Sohn einer alten Familie, auf die Militärakademie geht und diese sogleich wieder verlässt, um sich forthin als Müllmann zu verdingen. Im Krieg hatte er sich in eine Ärztin verliebt, die unter allen Umständen ihr Kinderkrankenhaus erhalten wollte, koste es was es wolle. Als sie jedoch erfuhr, was mit den Kindern, die sie zur Adoption freigab, geschah, sah man sie nie mehr auf der Station. Er habe sich auf die Suche nach Martins Familie begeben, meint der Psychiater. Als er in dessen verfallenes Elternhaus Einlass fand, begann eine Reise in die Tiefenräume der Psyche, um schliesslich hinter einer falschen Wand auf unzählige dort deponierte Müllsäcke zu treffen.

Nicht minder verschroben scheint der Kioskbesitzer und Hundeliebhaber Emilio (Quim Gutiérrez) zu sein, dem eine Frau - nun dargestellt von Pilar Castro, also der Verlegerin - im Park beim Ausführen ihres Hundes begegnet. Emilio ist überaus angetan, wie die beiden Tiere sich beschnuppern und mehr daraus werden lassen und kann gar nicht aufhören, genüsslich zuzuschauen, wie sie sich begatten. Es entsteht eine Freundschaft und schliesslich Liebe auch zwischen den beiden Hundebesitzern, doch im Verlauf nimmt die Obsession Emilios überhand und es dreht sich alles nur noch um Hunde und seine Geliebte behandelt er ebenso - wie einen Hund.

In einer weiteren Episode geht ein ungleiches Paar auf eine von der Klinik organisierte Reise nach Paris. Er ist sehr gross und hat eine Muskelschwäche, sodass er von einem um den gesamten Körper gelegten Apparat gestützt werden muss. Sie ist dagegen ganz klein, hat ein langes und ein wesentlich kürzeres Bein und ist auf ausgleichendes Schuhwerkzeug angewiesen. Doch sie hat ein grosses Herz. Sie verlieben sich ineinander und als sie eines Tages miteinander schlafen, kann er seine Enttäuschung nicht verhehlen.

In diesem Moment verlässt der Zugreisende den Zug, um schnell einen Kaffee zu kaufen, doch er kommt nicht wieder. Seine Akte hat er auf dem Abteiltisch liegen gelassen und so beginnt die Verlegerin darin zu lesen, bald auch zu den Fällen zu recherchieren, um einige aufschlussreiche Entdeckungen zu machen.

Der 1980 im spanischen San Sebastiàn geborene Regisseur Aritz Moreno nimmt den Zuschauer in seinem Debutfilm mit auf eine Reise, die den obskuren Windungen der menschlichen Psyche folgt. Immer absurder entwickeln sich die Episoden, sie sind nicht miteinander verwoben oder vielleicht doch und machen vor verstörenden Momenten nicht Halt. Eine stringente, gar zeitliche Ordnung führt sich selbst ad absurdum und rückt den Film in beste surrealistische Tradition. Luis Bunuels "Ein andalusischer Hund" von 1928 oder Paul Thomas Andersons “Magnolia” von 1999 gelten Moreno als Referenzen für seine Adaption des gleichnamigen Buches von Antonio Orejudo. "Ventajas de viajar en tren" ist ein abgründig-unterhaltsamer Beitrag zum surrealen Kino in Spanien.

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© Verleih

Info:
Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden (Originaltitel: Ventajas de viajar en tren),Spanien, Frankreich 2019
Regie: Aritz Moreno
Drehbuch: Javier Gullón
Romanvorlage: Antonio Orejudo
Darsteller: Pilar Castro, Ernesto Alterio, Luis Tosar, Quim Gutiérrez u.a.