Bildschirmfoto 2020 09 19 um 23.33.21Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 17. September 2020, Teil 8

Claus Wecker

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Ein Paar schwebt über das zerbombte Köln. Es ist ein Bild des Grauens und der Hoffnung zugleich, das sich der schwedische Regisseur Roy Andersson ausgedacht hat. Und es steht exemplarisch für die europäische Geschichte, für die Zerstörungen des Zwanzigsten Jahrhunderts und die optimistischen Ansätze, die den materiellen und moralischen Verwüstungen folgten.

Roy Andersson ist ein Solitär im Weltkino. Auf seine Filme »Songs from the Second Floor«, »Das jüngste Gewitter« und »Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach« folgt jetzt seine Studie »Über die Unendlichkeit«. Es ist eine Serie der besonderen Art entstanden, denn im Grunde dreht Andersson, dieser freundliche ältere Herr, den man sich als seinen (Groß-)Vater wünschen würde, immer den gleichen Film.

Der ist aber alles andere als freundlich und leicht konsumierbar. Er besteht aus Szenen, in denen Menschen mal alltägliche, mal äußerst merkwürdige Dinge tun. Viel Vergebliches ist zu sehen: eine besiegte Armee, ein Priester, der seinen Glauben an Gott verloren hat und nun einen Therapeuten um Rat anfleht. Der ist gerade dabei, die Praxis zu schließen, vertröstet seinen Patienten auf einen späteren Termin und hat nur die Sorge, seinen Bus zu bekommen. Während Ingmar Bergman aus dem Motiv des vom Glauben abgefallenen Pfarrers einen zutiefst ernsten, protestantischen Film gemacht hat (»Licht im Winter«), lässt Andersson seine Figur in einer weiteren Szene angetrunken zum Abendmahl wanken.

Das Weintrinken, eine ritualisierte Form des Lebensgenusses, hat es ihm besonders angetan. In einem früheren Film bemühte sich ein älterer Herr, eine Flasche zu entkorken. Während seine Frau aus der Küche nach dem Stand der Dinge fragte, brach der Gatte schließlich zusammen (der Korken steckte immer noch in der Weinflasche). Jetzt öffnet ein Kellner ganz vorschriftsmäßig eine Flasche, schenkt dem Zeitung lesenden Gast eine Schluck Rotwein zum Probieren ein, um sodann das Glas bis zum Überlaufen zu füllen und immer weiter zu gießen.

Es geht am Beispiel alltäglicher Situationen um existentielle Fragen. Um die Verletzlichkeit des Menschen, um seine Träume, seine Bemühungen, mit den Widrigkeiten des Lebens fertigzuwerden. Das erinnert an Loriot, allerdings ohne dessen Hang zum Klamauk, ist tiefschwarz bis ins Kafkaeske. Die Erzählerin, die mit Sätzen wie »Ich sah einen Mann, der die Welt erobern wollte und begriff, dass er gescheitert war« Szenen einleitet, ist der Scheherazade aus »Tausendundeiner Nacht« nachempfunden. Die weibliche Stimme aus »Hiroshima, mon amour« habe ihn inspiriert und außerdem noch »Das Bildnis der Journalistin Sylvia von Harden« von Otto Dix, der an eine heraufkommende Apokalypse geglaubt habe und dessen Gemälde als Warnung verstanden werden könnten, so Andersson in einem Interview. Und in der Tat sind seine Szenen, die durchweg im Studio gedreht wurden, wie lebende Gemälde komponiert. Andersson ist mit Filmpreisen geradezu überhäuft worden. Für »Über die Unendlichkeit« erhielt er im letzten Jahr den Silbernen Löwen in Venedig als bester Regisseur. Er kann auf einen festen Kreis seiner Fans zählen, aber seine Filme sind zu wichtig und wertvoll, als dass man es dabei bewenden lassen sollte.

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Info:
BESETZUNG
Pfarrer          Martin Serner
Erzählerin    Jessica Lothander
Fliegendes Paar             Tatjana Delaunay und Anders Hellström
Mann an der Treppe      Jan Eje Ferling
Psychiater                      Bent Bergius
Zahnarzt                        Thore Flygel

STAB
Regie        Roy Andersson
Drehbuch  Roy Andersson
Kamera     Gergely Pálos