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Kategorie: Film & Fernsehen
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Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 10 Juni 2021, Teil 2

Ash Mayfair

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - „MAY, DIE DRITTE FRAU“ ist inspiriert von der Geschichte meiner Familie. Es ist eine Coming-of- Age-Erzählung, eine Geschichte über Liebe und Selbstfindung in einer Zeit, in der Frauen kaum ein Mitspracherecht besaßen. Die weibliche Sexualität, der Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter und der Kampf des einzelnen Menschen in einer konservativen patriarchalischen Gesellschaft sind Themen, die mich immer fasziniert haben.

Ich bin in Vietnam aufgewachsen, in einer Gesellschaft, in der Traditionen, Geschichte und Gemeinschaft höher wertgeschätzt wurden als persönliche Unabhängigkeit. Die Heldin dieser Geschichte begibt sich auf eine Reise, auf der ihre Identität viele verschiedene Rollen annehmen muss: die eines Kindes, einer Frau, einer Ehefrau, einer Geliebten und schließlich einer Mutter.

Die Männer und Frauen in meinem Drehbuch haben alle Vorbilder in realen, eng mit der bäuerlichen Landschaft Vietnams verbunden Personen. Die Geschichte im Film ist zwar fiktiv, doch ihr Stoff ist aus vielen echten Begebenheiten gewoben. Sowohl meine Urgroßmutter als auch meine Großmutter wurden als junge Mädchen verheiratet und lebten in arrangierten Ehen. Meine Urgroßmutter lebte vom Teenageralter an bis zu ihrem Tod in einer polygamen Ehe. Die arrangierte Ehe ist eine tief verwurzelte Tradition, und sie interessiert mich nicht nur wegen meiner eigenen Familiengeschichte, sondern auch, weil sie in vielen Ländern leider noch immer gängige Praxis ist.

Die Themen Sexualität und Sinnlichkeit mussten deshalb im Film behutsam behandelt werden. Dennoch wollte ich mich nicht davon abhalten lassen, Emotionen ehrlich darzustellen. Mays Sehnsucht nach Xuan, ihre Schwangerschaft und der Schock, schon sehr jung in einer solchen Situation zu leben, zwingen sie, weit über ihre altersgemäße Entwicklung hinauszuwachsen.

Die Rituale in Mays Hochzeitsnacht entsprechen alten vietnamesischen Traditionen, von denen mir die Schauspieler während der Probenzeit erzählten. Ich hatte das Glück, dass die Hauptrolle der May von einer sehr sensiblen und für ihr Alter reifen Schauspielerin übernommen worden war, die die Komplexität ihrer Rolle genau verstand und von ihrer Familie im höchsten Maß unterstützt wurde. Mays Reise im Film wurde durch diese Schauspielerin wesentlich tiefer und reicher, da sie sich emotional auf die Figur einstimmte und der Geschichte ihr persönliches Verständnis und Mitgefühl entgegenbrachte.

Vor dem soziopolitischen Hintergrund der damaligen Zeit war es für mich wichtig, das Thema Liebe und Begehren so offen wie möglich anzusprechen. Es ist nicht meine Absicht, diese Frauen als Opfer darzustellen. May ist zu viel mehr befähigt als zu den Rollen, die ihr von der Gesellschaft zugeteilt werden, ähnlich wie es auch heute noch viele Frauen als ihr Schicksal erleben.

In meiner Kindheit waren Geschichten über herausfordernde Lebenssituationen, zu denen Geburt und Tod, Kindererziehung, das Leben als Nebenfrau in seiner ganzen Tragweite, verlorene Liebe und neu gefundene Geborgenheit gehörten, sprudelnde Quellen für meine Fantasie.

Als wir uns vor fünf Jahren auf den Weg machten, diesen Film zu drehen, stellte ich fest, dass viele Menschen, mit denen ich während meiner Recherchen und Vorbereitung gesprochen habe, ähnliche Erfahrungen gemacht oder Familienmitglieder mit nahezu identischen Schicksalen wie meine Charaktere hatten.

Während der Dreharbeiten war es wichtig, dass Cast und Crew mit dem damaligen Leben eng vertraut wurden. Ich hielt lange Improvisationsproben ab, in denen der Cast in Kostümen und Charakteren lebte und interagierte. Das Set war exakt nach historischen Vorgaben gebaut und die SchauspielerInnen konnten in jedem Raum des Herrenhauses tief in ihre Rolle eintauchen. Als ich das Drehbuch umschrieb, lebte ich mehrere Wochen am Set, um die Atmosphäre der Landschaft richtig aufzunehmen. Während der Proben arbeitete ich sehr eng mit den DarstellerInnen an allen Aspekten ihrer Charaktere zusammen, dabei näherten wir uns mithilfe der Geschichtsforschung, Literatur, Malerei und Musik dem Denken der Menschen in jener Zeit an. Ich hatte das Glück, in einem Land aufgewachsen zu sein, zu dessen Reichtum eine bedeutende überlieferte Folklore beiträgt. Durch die orale Tradition der vietnamesischen Kunst und Literatur habe ich ein tiefes Bewusstsein für die Musikalität der Sprache entwickelt, und ich hoffe, dass ich deren poetische Sensibilität im Film offenbaren kann.

In Bezug auf die Ästhetik sind die visuellen Entscheidungen von „MAY, DIE DRITTE FRAU“ weitgehend von der Landschaft und den kulturellen Traditionen Nordvietnams inspiriert, der Heimat meiner Urgroßeltern. Die Natur ist eine dominante symbolische Kraft, die eng mit Spiritualität und Religion verbunden ist. Der Lauf der Sonne und der Jahreszeiten prägte das Leben und die Gewohnheiten der Menschen. Um dies darzustellen, war es deshalb wichtig, so viel natürliches Licht wie möglich zu verwenden. Für die Beleuchtung in den Nachtszenen experimentierte unsere Kamerafrau viel mit Feuer, weil ich auf keinen Fall wollte, dass die Bilder irgendwie künstlich wirkten.

Mithin bedient sich die Kinematographie in „MAY, DIE DRITTE FRAU“ der Methoden der Malerei. Die Ruhe in den meisten Bildkompositionen beruht auf dem Wunsch, dass jeder Frame einem Aquarell so nahe wie möglich kommt.

Als Künstlerin glaube ich, dass „MAY, DIE DRITTE FRAU“ eine Geschichte ist, die ich nicht nur erzählen muss, weil sie für mich zutiefst persönlich ist, sondern auch, weil die darin behandelten Themen und sich auffaltenden Leben universelle Bedeutung haben. Von einem geliebten Menschen getrennt zu sein, ist für Männer und Frauen jeden Alters verheerend. Der Konflikt zwischen den Wünschen des Einzelnen und der Pflicht gegenüber seiner Familie betrifft Menschen jeder Klasse, Rasse und jeden Geschlechts. Überall leiden Mädchen und Frauen noch immer unter mangelnder Bildung und fehlenden beruflichen Möglichkeiten, selbst in modernen, entwickelten Gesellschaften. Ich wurde Filmemacherin, weil ich mit keinem anderen Medium so wirkungsvoll andere Menschen erreichen und mich mit ihnen verbinden kann. Die Schönheit des Kinos ist für mich nicht nur eskapistisch, sondern auch transformativ. In diesem Film wird es schonungslose, unangenehme, erschütternde und schmerzhafte Momente geben. Ich hoffe aber, dass er auch verzeihend, großzügig, humorvoll, liebevoll und sinnlich sein wird, ganz so wie die vielen Leben, an denen ich teilhaben durfte.

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