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Kategorie: Film & Fernsehen
nahuschußSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 12. August 2021, Teil 11

Redaktion

Berlin Weltexpresso) - NAHSCHUSS entstand in 25 Drehtagen. Eine ohnehin knapp bemessene Zeit. Und in diesem Fall noch enger, weil der Dreh in drei Bundesländern stattfand, Berlin, Hamburg und Nordrhein-Westfalen, was entsprechende Umzüge nach sich zog.

Sie haben, wenn möglich, an Originalschauplätzen gedreht. Gab es spezifische Ausnahmen?

Ja, die Hinrichtungsstätte in Leipzig. Ich finde ganz klar: Es gibt Orte, die muss man für sich bestehen lassen. Ich fand es nicht richtig an einem Ort zu drehen, an dem Menschen hingerichtet worden sind. Für einen Dokumentarfilm wäre das mitunter unerlässlich gewesen. Es ist mir natürlich auch wichtig zu zeigen, wie die Hinrichtung historisch stattgefunden hat. Ich war daher vor den Dreharbeiten auch mit der Szenenbildnerin von NAHSCHUSS, Anke Osterloh, und dem Kameramann Nikolai von Graevenitz in der Hinrichtungsstätte, der ehemaligen Hausmeisterwohnung des Leipziger Gefängnisses. Es war ein intensives Erlebnis, über das wir bis heute sprechen. Wir haben danach lange nach einer Wohnung gesucht, in der man diese Szene drehen kann. Sie sollte dem wahren Ort sehr nahekommen, damit man als Zuschauer nachvollziehen und erleben kann, was geschehen ist.


Welche anderen Locations waren essenziell?

Schon während des Drehbuchschreibens habe ich Originalorte, so sie denn noch existierten bzw. begehbar und recherchierbar waren, aufgesucht und mich oft stunden- und tagelang darin allein aufgehalten. Deshalb war ich oft in der Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen. Dort befindet sich auch der Gefangenentransporter, in dem wir Lars Eidinger in der ersten Szene sehen. Gefangene wurden darin in eine nicht mal ein Kubikmeter winzige überhitzte Zelle ohne Frischluft gesperrt und teils stundenlang umhergefahren, ohne zu wissen, wohin. Das ging über körperliche und seelische Grenzen. Machtdemonstration, Demütigung und Desorientierung gehörten zum Konzept der Staatssicherheit. Davon erzählen auch Räume. In dem Gefängnistrakt in Hohenschönhausen drehten wir an mehreren Tagen vor dem Morgengrauen. Wir waren die Einzigen auf dem Gelände. Ich fand das für die intensive Wahrnehmung der Orte sehr dienlich. Ich war während der Drehbucharbeit auch immer wieder in der Mielke-Etage im Hauptquartier des Ministeriums für Staatssicherheit in der Berliner Normannenstraße, gar nicht weit vom Alexanderplatz entfernt. Dort ist die komplette Etage erhalten, wie sie unter Mielke ausgesehen hatte. Wir haben in einem Konferenzraum des ehemaligen MfS-Gebäudes gedreht. Auf dem Gelände, gegenüber von Mielkes Gebäude, befindet sich die Hauptverwaltung Aufklärung von Markus Wolf. Dort, also am Originalort, haben wir das Büro unseres Franz Walter aufgebaut. Auch drehten wir in einem ehemaligen Segelclub der Stasi. Der Aufenthalt an diesen Orten des Geschehens war entscheidend für mich. Wenn man nicht nur schnellen Blickes solche Orte streift, sondern mit dem Wissen um diese Orte sehr lange dort verweilt, beginnt die Einlassung, man beginnt zu fühlen und wirklich zu sehen. Auf diese Art sind Bilder für NAHSCHUSS in mir entstanden und wichtige Ideen für Handlungsdetails gewachsen. Dieses stille lange Beobachten kenne und pflege ich auch sehr in der Fotografie. Fotografie macht das Unsichtbare sichtbar. Und das gilt auch für die Bilder eines Films. Aber das braucht Zeit und Einlassung.


Die Bilder sind genau komponiert; ihre Dichte raubt dem Zuschauer buchstäblich den Atem. Warum haben Sie – als Fotografin - Nikolai von Graevenitz als Kameramann gewählt?

Es war meine erste Zusammenarbeit mit Nikolai von Graevenitz. Ich schätze seine bisherigen Filme sehr. Er besitzt, als Künstler, wie auch als Mensch, eine hohe Sensibilität. Wie ich, geht er sehr in die Beobachtung und agiert aus einer inneren Ruhe und hohen Konzentration heraus. Als Fotografin ist mir die visuelle Gestaltung von NAHSCHUSS natürlich enorm wichtig gewesen. Ich hatte während der Recherche und dem Schreiben des Drehbuchs Fotos von den Orten gemacht, an denen ich gewesen bin. Entscheidend war, mit Nikolai eine gemeinsame visuelle Sprache für NAHSCHUSS zu definieren. Es ist wichtig den Kern zu finden, den trägt man dann zum Dreh als Basis, auf diese bezieht man sich immer wieder, auch wenn beim Dreh Neues entsteht, was immer auch gewünscht und gewollt ist.


Wie sind Sie zu der gemeinsamen Sprache mit Nikolai von Graevenitz gekommen?

Bei unserer ersten Besprechung sagten wir beide, dass wir eine wichtige Idee hätten, und sagten, wie aus einem Mund: Gimbal! Damit meinten wir eine bewegte Kamera, die vor dem Körper des Kameramanns befestigt wird und frei bewegt werden kann. Das hatte was Magisches. Auf jeden Fall wurde in dem Moment klar, dass wir tatsächlich eine gemeinsame Sprache sprechen. Und genauso haben wir dann den gesamten Film gedreht, vom Gimbal aus und nicht vom Stativ. Für uns sollte sich der Film organisch anfühlen. So als würden wir mit Franz ein Stück seines Lebensweges gehen, die letzten eineinhalb Jahre bis zu seinem Tod. Mir war es wichtig Szenen ohne Unterbrechung durchdrehen zu können und den Schauspielern den Raum zu geben, sich frei zu bewegen. Nikolai schafft es, dass wir mit der fortlaufend leichten Kamerabewegung bei Franz sind, so als würden wir ganz dicht neben ihm stehen. Die Kamera verschmilzt mit Franz Bewegungen, wird zwischendurch zu seiner POV, seiner Sicht. Der Zuschauer geht mit ihm durch die Flure der HVA und steht mit ihm vor Gericht. Wir wollten trotz der Bewegung eine sehr ruhige Kamera, die genaues Beobachten provoziert. In der Montage verzichtet NAHSCHUSS infolgedessen bei emotionalen Entwicklungen bewusst auf eine Rhythmisierung durch Schnitt. Schon beim ersten Bild des Films, Franz‘ Fahrt im Gefangenentransport, wohnen wir der Steigerung seiner Angst bis zum Ringen um Luft in einer einzigen Einstellung bei. Wir haben in sehr engen und kleinen Räumen gedreht. Das war eine Herausforderung. Nikolai und ich haben vorher gemeinsam alles aufgelöst und gestoryboarded. Die Bilder des Films leben auch sehr durch das Szenenbild von Anke Osterloh, das Kostümbild von Ute Paffendorf und das Maskenbild von Nicole Skaletz und Dolores Sanchez. Das ist eine große immerwährende Faszination beim Filmemachen: Das orchestrale Zusammenwirken, das für mich ein Kern meiner Arbeit als Regisseurin ist.


Auffällig ist, dass Sie fast komplett auf Establishing-Shots verzichten?

Das hatte ich im Drehbuch schon angelegt. Ich wollte immer bei Franz sein. Es gibt im Drehbuch keine Szene ohne ihn. Für die normalerweise im Film gängigen neutralen Establishing-Shots wäre die Nähe zu Franz unterbrochen worden. Eine vollständige Raumorientierung ist in NAHSCHUSS für den Zuschauer daher zwar nicht immer sofort möglich, aber das ist eine bewusste Entscheidung. Sie entspricht Franz innerem Zustand der zunehmenden Orientierungslosigkeit und überträgt sich als Gefühl auf den Zuschauer.

Überhaupt gibt es nur ganz wenige Außenszenen, fast der komplette Film spielt in Innenräumen. Nikolai hat das als Kameramann genial gelöst. Es gibt mit zunehmender Dauer immer weniger Licht, alles wird enger, verzweifelter. Wir haben mit ganz geringer Tiefenschärfe gedreht. Vieles in unseren Bildern ist unscharf oder liegt im Dunkeln. Die Bilder sollen wiedergeben, wie die Figuren sich fühlen. Manche Dinge sind gar nicht mehr erfassbar. Man greift danach, landet aber im Leeren. Die inneren und äußeren Räume schließen sich immer mehr, bis sie sich verschließen. Dazu gehört auch die Reduktion im Farbkonzept, das auch angelehnt ist an die Farben der DDR, aber darüber hinausgeht. In seiner Weichheit und dem Milchigen macht es das schwer Greifbare erfahrbar. Das unterstreicht die „Implosion“ der Hauptfigur, die in eine gefühlte Ausweglosigkeit hineingerät.


Was ist Ihnen bei Ihren Mitstreitern wichtig?

Jede Stimme, jede Position ist wichtig. Ich habe bei Nahschuss für das Team und den Cast nicht rein nach Filmographien und fachlichen Kompetenzen Ausschau gehalten, sondern ich habe nach Menschen gesucht, mit denen ich gerne zusammenarbeiten möchte. Leidenschaft, Empathie und echtes Interesse an hoher Konzentration finde ich sehr wichtig. Danach habe ich gesucht. Drehen bedeutet hochgradig sensible vielschichtige künstlerische Prozesse gemeinsam in einem festen zumeist engem Zeitrahmen zu realisieren. Den Film haben wir in nur 25 Tagen gedreht. Ich bin dem Team sehr dankbar: Die Konzentration und Stille aller Beteiligten am Set, machte ein gemeinsames Erspüren der Geschichte und der Orte möglich. In dieser Konzentration konnten wir bei den Dreharbeiten Möglichkeiten emotionaler Einlassung erschaffen – gleichsam vor und hinter der Kamera. Es gab keine Trennlinie. Es war ein großes Geschenk und ein herausragendes Erlebnis nach sieben Jahren Drehbucharbeit diesen Film mit so viel Intensität, Genauigkeit und Einlassung aller Beteiligten zu realisieren.

Fortsetzung folgt

Foto:
©Verleih

Info:
STAB
Regie & Drehbuch FRANZISKA STÜNKEL

BESETZUNG
Franz Walter LARS EIDINGER
Dirk Hartmann DEVID STRIESOW
Corina Walter LUISE HEYER
Klara PAULA KALENBERG
Schreiber PETER BENEDICT
Professorin Link VICTORIA TRAUTTMANSDORFF
Hagedorn ANDREAS SCHRÖDERS
Renner MORITZ JAHN
Wagner KAI WIESINGER
Panther PETER LOHMEYER
Hans Walter CHRISTIAN REDL
Margit Walter HEDI KRIEGESKOTTE
Bernd HENDRIK HEUTMANN