Bildschirmfoto 2021 08 20 um 00.03.38Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 19. August 2021, Teil 14

Redaktion

Berlin  (Weltexpresso) - Wie haben Sie Claus Drexel kennengelernt?

AU BORD DU MONDE, sein Dokumentarfilm, hat mich überwältigt. Ich habe mir den Film mehrmals angesehen und habe auch Freunde mitgenommen. Ich fand, dass Claus eine gute Nähe gefunden hatte, um diese Leute, die Menschen auf der Straße zu beobachten. Ich mochte seine Sensibilität. Ich rief ihn an, um ihm zu gratulieren. Und um ihn zu fragen, ob ich einige der Zitate, die er zusammengetragen hatte, für ein Theaterstück verwenden könne. Er wollte damit gerne einen Spielfilm drehen.


Waren Sie sofort damit einverstanden, dass er aus ihrer Rolle und Suli eine Art Paar machen wollte?

Wir hatten dasselbe Interesse an Christine, einer der Heldinnen des Dokumentarfilms, wollten aber für den Film noch einen anderen Schwerpunkt. Claus, der danach viel Zeit mit Flüchtlingen im „Dschungel“ von Calais verbrachte, unterbreitete mir dann die Idee von Suli, einem Migranten, der ebenso verloren und isoliert ist wie sie. Von da an ließ ich ihn mit Olivier Bruhnes das Drehbuch weiterentwickeln. Wir trafen uns regelmäßig, um gemeinsam zu reflektieren, aber es blieb ihr Drehbuch.


Sie haben noch nie eine solche Rolle gespielt.

Über das Elend zu sprechen war mir wichtig. Dieser Frau eine dramatische Ebene zu geben, war eine Art der Würdigung.


Wie haben Sie sich auf die Dreharbeiten vorbereitetet?

Ich traf mich sehr intensiv mit einigen der Mitwirkenden von Claus’ Dokumentation. Ich besuchte Orte, an denen sie willkommen sind: die Saint-Leu-Kirche im 1. Arrondissement, die CAMRES beim Gare de l’Est, „La Moquette“, Rue Gay-Lussac. Das hat mir geholfen, den Einstieg in die Szene, in der Christine lebt, zu finden.


Man rutscht nicht ungestraft in solch ein Universum ...

Seltsamerweise litt ich nicht unter dem Eintauchen in diese Welt, ich erlebte besonders die Stille; ich habe mich zurückgezogen. Ich empfand mich sowohl leer als auch frei, mit einem Gefühl, nicht ganz real zu sein. Wie aus einem Buch herausgesprungen zu sein. Als ob Christine mit ihrem Mantel, ihrer Kapuze, ihren durchlöcherten Handschuhen und der Kleine, den sie an der Hand hielt, aus einem Gemälde entstiegen wären. Es war wie der Eintritt in eine andere Welt, eine ungewöhnliche Reise.


Stilistisch entfernt sich die Rolle von den Obdachlosen, die wir auf der Straße treffen ...

Sollte Christine wie sie sein? Es ist wahr, dass sich Frauen in dieser Situation kaum von von denen mit einem Dach über dem Kopf unterscheiden: Sie erscheinen oft tadellos, sehr zurückhaltend – das sieht man sehr gut in LES INVISIBLES von Louis-Julien Petitmais, aber in AU BORD DU MONDE habe ich auch weniger unauffällige Erscheinungen mit großen Mützen und goldenen Sachen bemerkt. Da hatte ich sehr schnell Lust auf einen großen schwarzen Mantel mit Kapuze. Dies erinnerte mich an italienische Gemälde, Stiche von Grimms Märchen, die Hexen zeigen; eine Darstellung der Armut, die der heutigen Realität nicht mehr entspricht. Die Christine des Films sollte die Vorstellung eines Gemäldes anregen.


Mit diesem Kostüm gestalten Sie sie zeitlos ...

Dies gibt dem Film seinen einzigartigen Ton – mit einem Fuß in der Realität und dem anderen in einem Märchen. Ich lege besonderen Wert auf die letztere Ebene. Diese Frau ist alterslos; sie könnte 500 Jahre alt sein, sie ist fast mittelalterlich.


Sie erinnert mehr an die Vorstellung von Vagabunden, die wir noch in den1980er-Jahren hatten, als an eine Obdachlose.

Das Wort „Bettlerin“ würde ihr noch besser gefallen. Sie kommt aus einer anderen Zeit, aus den „Mystères de Paris“ von Eugène Sue, von den großartigen Figuren von Victor Hugo und aus den Stichen von Daumier. Ich dachte an diese Künstler, als ich spielte. Sie hat auch ein wenig das Übergeschnappte, ein bisschen Theatralische von Shakespeare. Wir wollten diese Figur aus der Tragödie ins Magische, in eine gewisse Schönheit, eine gewisse Poesie ziehen.


Bis zu diesem Treffen mit dem Kind ...

Sie hatte ihres verloren. Als sie Suli trifft, ist Christine fast bösartig, um sich selbst zu beschützen, aber durch den Kontakt zu ihm öffnet sie sich wieder und lässt ihn nicht mehr los. Sie will unbedingt die Mutter des Kindes finden.


Erzählen Sie uns von Mahamadou.

Mahamadou war damals neun Jahre alt, er war großartig. Wir haben uns zwei oder drei Mal vor dem Dreh getroffen, um bestimmte Szenen zu proben, und dann haben wir den Sprung ins kalte Wasser gewagt.


Es ist schön, dieses Verständnis zwischen ihnen nur durch Blicke und Gesten ...

Ja, ihr Gespräch beschränkt sich auf „Ich hier, du da“; es passiert woanders. Es gibt fast eine animalische Seite zwischen ihnen. Dies hindert sie nicht daran, sich zu verstehen oder sogar zusammen zu lachen. Sehr schnell stellten weder er noch ich uns noch Fragen. Christines Hände sprechen, ihre Stille spricht, der Blick des Kindes, das sie aus der Ecke beobachtet, spricht für sich...


Es gibt eine herzzerreißende Szene im Film: Suli glaubt, seine Mutter zu sehen und verschwindet in der Nacht, und Christine, Ihre Figur, die ihn überall in Barbes sucht, schluchzt: „Mein Kleiner, mein Kleiner“...

In dieser Szene gibt es etwas Tragisches – nicht im heutigen trashigen und hartherzigen Sinne; sondern in einem poetischen, erhebenden Sinne.


Hat sich Christine, indem sie allen Widerständen zum Trotz diesem Kind hilft, „wiederhergestellt“?

In gewisser Weise ja, aber ihr Opfer hatte einen Preis. Das ist das Leben, ihr Leben. Ein Kampf, bei dem es immer irgendwie Hoffnung gibt, aber auch große Schwierigkeiten. Ich sehe diese Frau als ein Sinnbild. Jemand sagte einmal: „Wenn man einen armen Menschen trifft, trifft man ein Mythos.“ Das ist wahr.


Erzählen Sie uns von den Obdachlosen, mit denen Sie gedreht haben ...

Bei ihnen war alles einfach, sie kannten ungefähr die Geschichte und wussten, warum sie dort waren. Claus, der sie gut kannte, ließ sie ausdrücken und sagen, was sie wollten. Und hat alle diese Sequenzen in den Schnitt übernommen.


Haben Sie beim Schnitt alle Etappen verfolgt?

Ich war manchmal dort. Ich mag es, wenn es, bevor der Film komplett fertig gestellt wurde, noch ein wenig Raum für Diskussionen gibt. Auch wenn der Film vor allem der des Regisseurs bleibt, ist es gut, wenn man sein Empfinden äußern kann. Das ist nicht jedes Mal so ...


Foto:
©Verleih

Info:
BESETZUNG
Christine   Catherine Frot
Suli  Mahamadou Yaffa
Patrick  Jean-Henri Compère
Mama  Richna Louve
Hafenarbeiter  Raphaël Thiéry
Junger Obachloser Baptiste Amann
Doktorin Farida Rahouadj
und Dominique Frot

STAB
Regie Claus Drexel
Drehbuch Claus Drexel und Olivier Brunhes

Abdruck aus dem Presseheft