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Kategorie: Film & Fernsehen
arte.tv juliSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 7. Oktober 2021,  Teil 8

Redaktion

Paris (Weltexpresso) – Wie hat sich die Geschichte von TITANE während des Schreibprozesses entwickelt?

Mir war von Anfang an bewusst, dass das Drehbuch ein sehr komplexes Puzzle aus schwierigen Themen ist, das ich vereinfachen musste. Gleichzeitig musste ich vorsichtig mit der Simplifizierung sein, weil ich nicht riskieren wollte, das existenzielle Ausmaß der Geschichte aus den Augen zu verlieren. Es war ein echter Drahtseilakt. Um TITANE seine endgültige Form zu geben, konzentrierte ich mich auf den Charakter von Vincent (Vincent Lindon) und dessen Fantasie: Diese Idee, dass man selbst durch eine Lüge Liebe und Menschlichkeit zum Leben erwecken kann. Ich wollte einen Film machen, in den man sich zu Beginn unmöglich verlieben kann wegen all der Gewalt – der einen schlussendlich aber dank der charismatischen Charaktere doch berührt und dann tatsächlich als Liebesgeschichte wahrgenommen wird. Oder vielmehr eine Geschichte über die „Geburt einer Liebe“, denn in TITANE ist alles eine Frage der freien Wahl.


Können Sie uns die Sequenz gleich zu Beginn des Films erklären, in der Alexia (Agathe Rousselle) als Erwachsene gezeigt wird?

Diese Sequenz dient dazu eine bestimmte Vorstellung über Alexia zu veranschaulichen: Nicht meine eigene, sondern viel mehr die, die andere von ihr haben. Diese Vorstellung idealisiert sie, zwingt ihr eine Vorbildrolle auf, sexualisiert sie und macht sie zu einem wandelnden Klischee. Für mich ist sie wie eine Ablenkung. Wir sehen nur die Oberfläche, darunter entdecken wir eine fast kontur- und grenzenlose Form der Weiblichkeit, in der wir nach und nach versinken. Ich wollte, dass sich die erste Sequenz zwar organisch anfühlt, aber gleichzeitig komplett realitätsfern ist. Die Alexia, die uns hier vorgestellt wird, passt nicht zur eigentlichen Wahrheit des Charakters.


Wie verlief der Casting-Prozess für die Rolle der Alexia?

Ich wusste sofort, dass es jemand Unbekanntes sein muss. Wenn sie im Verlauf des Films ihre Mutationen durchläuft, wollte ich nicht, dass die Zuschauer eine ihnen physisch bekannte Schauspielerin im Kopf haben. Ich sprach gerade schon von „kontur- und grenzenloser Weiblichkeit“. Um die zu verkörpern, bedurfte es einer Unbekannten. Einer Schauspielerin, in die das Publikum keine Erwartungen hineininterpretieren kann. Jemand, deren Veränderung innerhalb der Geschichte sich nicht künstlich anfühlt. Daher suchte ich von Anfang an nach nicht-professionellen Darstellerinnen. Ich hatte eine androgyne Physis im Sinn, die nicht durch die Transformationen vor der Kamera gebrochen werden kann. Ich wollte ein Gesicht, das je nach Kamerawinkel anders aussieht, ohne unglaubwürdig zu wirken. Daher war das Casting sehr unspezifisch und doch präzise. Ich wusste, wer auch immer die Rolle bekommt, würde eine Menge Arbeit vor sich haben. Nicht weil Alexia so viel Text hat (sie ist ja fast stumm), sondern durch das Schauspiel an sich. Die Darstellerin würde tief in sich gehen müssen und über ihren Schatten springen und das dauert bekanntermaßen eine Weile. Als ich Agathe Rousselle zum ersten Mal bei einem Casting sah, stach sie wirklich heraus. Sie hatte den richtigen Körper und ein faszinierendes Gesicht, aber auch eine Menge Ausstrahlung. Sie dominiert die Leinwand und das war exakt, was ich wollte.


Und für die Rolle des Vincent?

Bei Vincent war das Casting viel leichter: Ich habe die Rolle speziell für Vincent Lindon geschrieben. Wir kennen uns schon lange und ich wollte ihn der gan- zen Welt so zeigen, wie ich ihn sehe. Seine Rolle erfordert ein breites Spektrum an Emotionen, zu denen meiner Meinung nach nur er fähig ist. Ebenso gruselig wie verletzlich, kindisch und düster. So menschlich, aber doch monströs, vor allem mit diesem enormen Körper. Um sich auf TITANE vorzubereiten, stemmte er fast ein Jahr regelmäßig Gewichte. Ich wollte ihn muskulös und imposant wie einen Ochsen, ähnlich wie Harvey Keitel in BAD LIEUTENANT von Abel Ferrara. Wir haben super zusammengearbeitet und das macht mich stolz. Vincent hat mir vertraut. Er ging völlig in seiner Rolle auf, ohne meine Art des Filmemachens komplett verstehen zu müssen. Er hat mir und der Rolle damit sehr viel gegeben. Und auch er selbst hat etwas gefunden, was er zu diesem Zeitpunkt seiner Karriere gebraucht hat, denke ich. Ich war zur rechten Zeit am rechten Ort, wenn man so will.

Foto:
©arte.tv

Info:
Darsteller:
VINCENT   Vincent Lindon
ALEXIA      Agathe Rousselle
JUSTINE    Garance Marillier
RAYANEA  Lais Salameh

Stab:
Regie.        Julia Ducournau
Drehbuch  Julia Ducournau
Kamera.     Ruben Impens