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Kategorie: Film & Fernsehen
leo carraxSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 16. Dezember 2021, Teil 10

Redaktion

Paris (Weltexpresso) – Wann sind Sie erstmals auf die Musik der Sparks aufmerksam geworden?

Ich war wohl 13 oder 14, ein paar Jahre, nachdem ich Bowie entdeckt hatte. Das erste Album von ihnen, das ich mir besorgt habe (gestohlen, wenn ich ehrlich bin), war „Propaganda". Danach „lndiscreet". Das sind bis heute meine Lieblings-Pop-Alben. Danach habe ich sie für Jahre mehr oder weniger aus den Augen verloren, weil ich als 16-Jähriger anfing, mich auf das Kino zu konzentrieren.


Wann und wie haben Sie die Brüder Ron und Russell Mael kennengelernt?

Ein oder zwei Jahre nachdem mein vorangegangener Film, HOLY MOTORS, herausgekommen war. In dem Film gibt es eine Szene, in der Danis Lavant im Auto einen Song aus dem Album „lndiscreet" spielt: „How Are You Getting Home?". Sie wussten also, dass ich ihre Arbeit schätze, und nahmen Kontakt mit mir auf, weil sie mit mir über ein Musical-Projekt reden wollten. Eine Fantasy über Ingmar Bergman, der in Hollywood feststeckt und der Stadt nicht mehr entfliehen kann. Aber das war nicht wirklich mein Ding. Ich könnte niemals einen Film drehen, der in der Vergangenheit spielt. Und ich würde keinen Film drehen, in dem eine Figur den Namen Ingmar Bergman trägt. Ein paar Monate später schickten sie mir ungefähr 20 Demos und die Idee für ANNETTE.


Wie sieht Ihre Beziehung zu Musicals aus? Selbst bei Ihren älteren Filmen hat man den Eindruck, als brennten Sie nur darauf, ein Musical zum Vorschein kommen zu lassen. Oft sieht man in Ihren Filmen Wahnsinnige Szenen, in denen sich die Figuren durch Musik und Tanz ausdrücken. Hat Sie die Vorstellung, eines Tages ein Musical zu inszenieren, schon länger beschäftigt?

Seitdem ich begonnen habe, Filme zu machen! Mein dritter Film, DIE LIEBENDEN VON PONT-NEUF, hatte ich mir als Musical ausgemalt. Das große Problem, mein größtes Bedauern, ist, dass ich keine Musik komponieren kann. Und wie wählt man einen Komponisten aus? Wie arbeitet man mit ihm? Das hat mir Sorge bereitet. Als junger Mann habe ich mir nicht viele Musicals angesehen. Ich kann mich erinnern, dass ich Brian De Palmas DAS PHANTOM IM PARADIES ungefähr zu der Zeit gesehen habe, als ich die Sparks entdeckte. Die großen Musicals aus Amerika, aus Russland, aus Indien habe ich erst später entdeckt. Und die Filme von Jacques Demy natürlich. 

Musicals geben dem Kino eine andere Dimension -fast buchstäblich: Man hat Zeit, Raum und Musik. Und sie geben einem eine wunderbare Freiheit. Man kann eine Szene inszenieren, indem man einfach nur der Musik folgt. Oder indem man gegen sie anspielt. Man kann alle erdenklichen widersprüchlichen Emotionen zusammenmischen, auf eine Weise, die völlig undenkbar wäre in Filmen, in denen Menschen nicht singen oder tanzen. Man kann grotesk und tiefgreifend sein, zur selben Zeit. Und Stille! Stille wird zu etwas völlig Neuem. Weil die Stille nicht nur im Kontrast zum gesprochenen Wort und den Klängen der Welt steht, sondern eine tiefere Bedeutung erhält.


Mich hat immer schon fasziniert, wie Sie formelle und experimentelle Risiken eingehen, aber auch keine Angst haben vor visuellen Gags mit diesen sehr körperlichen Schauspielern. In ANNETTE geht es um zwei Performer. Wie haben Sie deren jeweilige Domänen ausgearbeitet?

Erst habe ich mir überlegt: Warum ist sie eine Opernsängerin, warum ist er ein Stand-up-Comedian? Die Welt der Sparks ist Pop-Fantasy, mit vielschichtiger Ironie. Aber erst einmal musste ich alles todernst nehmen. Und ich wusste nichts über die Oper und nur ganz wenig über Stand-up-Comedy. Mein Interesse war schnell geweckt. Diese beiden Formen, so weit voneinander entfernt, teilen sich einige Dinge. Die Nacktheit, Verletzlichkeit, der Opernsänger und der Comedians auf der Bühne. Das Spiel mit dem Tod: Bei der Oper geht es regelrecht um Frauen, die auf der Bühne sterben, in allen erdenklichen Formen, während sie ihr schönstes, bewegendstes Lied singen - die Arie; und die ganz großen Comedians wie Andy Kaufman flirten auf der Bühne offen mit dem Tod. Das Groteske ist essenziell für Comedy, während die ernste Oper zwar einen großen Bogen darum macht, aber dennoch oft als grotesk verlacht wird. Und Singen und Lachen sind sehr organische Vorgänge. Sie stützen sich auf ein komplexes anatomisches System, dasselbe lebensnotwendige System, das fürs 
Atmen zuständig ist.

Ich begann den gesamten Film als Metapher für das Atmen zu begreifen: Leben und Tod selbstverständlich, und Lachen, Singen, Leben schenken, den Atem anhalten... und auch, ja, Atmen als musikalischer Rhythmus.


Im Prolog hören wir Ihre Stimme, wie Sie das Publikum bitten, konzentriert zu bleiben und den Atem anzuhalten. 

Was jetzt eine völlig neue Bedeutung hat, weil ANNETTE, den wir vor Covid gedreht haben, in der Covid-Ära in die Kinos kommen wird, eine Zeit, in der man in der Gegenwart anderer am besten nicht zu sehr atmen soll. Leben und Tod, gleich noch einmal.


Die Geschichte von ANNETTE ist archetypisch und zugleich absolut zeitgemäß. Ich musste an A STAR IS BORN denken, an PINOCCHIO und DIE SCHÖNE UND DAS BIEST. Erinnern Sie sich an Ihre erste emotionale Reaktion, als die Sparks Ihnen die Geschichte unterbreiteten?

Ich habe die Songs sofort ins Herz geschlossen. Ich fühlte mich vom Glück geküsst, dankbar. Aber zunächst einmal sagte ich ihnen, dass ich den Film unmöglich machen könne. Ich hatte persönliche Bedenken. Ich habe eine junge Tochter - sie war zu diesem Zeitpunkt neun Jahre alt. Und obwohl die Brüder nichts über mein Leben wussten (denke ich), gab es ein paar Elemente in der Geschichte, die ihr ziemlich an die Nieren hätten gehen können. Und wollte ich - konnte ich - an diesem Punkt in meinem Leben wirklich einen Film über einen so „schlechten Vater" machen? Aber je öfter ich mir die Lieder anhörte, desto mehr gefielen sie auch meiner Tochter. Sie fragte mich, worum es sich bei ihnen dreht. Ich erklärte es ihr und bemerkte dabei, wie viel sie davon schon verstand. Und dass an dem Zeitpunkt, an dem der Film gemacht werden könne (wenn überhaupt), sie bereits verstehen würde, wie ein Filmprojekt entsteht. Also sagte ich „Ja"!


Entwickelten Sie Strategien, um den Stoff zu Ihrem eigenen zu machen, damit es Ihr Film werden würde?

Musik ist so intim. Ich könnte mir nicht vorstellen, ein Musical zu drehen, wenn ich nicht jede Note in jedem Song spüren würde. Das bereitete mir Sorgen, zumal wir versuchten, den gesamten Film ausschließlich in Liedern zu erzählen. Musicals bestehen normalerweise aus zehn bis zwanzig Liedern - die Hälfte davon langweilig. Aber wir benötigten 40 Lieder. 40 Lieder, die ich zuerst vor meinem inneren Auge sehen musste, um sie danach filmen zu können. Und wie arbeitet man mit Musik, wenn man selbst kein Musiker ist? 

Der Prozess mit den Sparks erwies sich indes auf wundersame Weise als simpel. Sie sind ungeheuer einfallsreich und bescheiden und schnell, mit einem untrüglichen Gespür für Melodien und Rhythmus, Melancholie und Freude. Und mir war ihre Musik schon seit so langer Zeit vertraut. Es fühlte sich an, als würde ich nach Jahrzehnten zum Zuhause meiner Kindheit zurückkehren - allerdings ein Haus ohne Geister.

Es besteht das Risiko, dass der Film sich anfühlen könnte wie Pampe, wenn man so viele Lieder hat, egal wie großartig sie sind. Oder eine Jukebox, die zu lang zu laut dröhnt und einfach nicht aufhören will. Was natürlich ein Killer gewesen wäre, das Ende der von uns intendierten Erfahrung. Also muss man ganz sorgsam umgehen mit dem gesamten Score, wie man es auch mit der Totalität des Films tun muss, wenn man sich im Schneideraum befindet. Es geht darum, den natürlichen Atem des Films zu finden.

Eine weitere Sorge war: Wie erschaffen wir Henry? Ein Henry, den ich nachempfinden kann. Und welche wahrhaftige Vater-Tochter-Beziehung ich mir vorstellen konnte in diesem Kontext der „Exploitation"...


Können Sie ein wenig über die Eröffnungssequenz erzählen, die zu „So May We Start" orchestriert wurde? Kann man sie als Einführung in den Film betrachten?

Weniger in den Film, als vielmehr in die spezifische Form des Films. Wir stehen tief in der Schuld von Sondheims großartigem „lnvocation and Instructions to the Audience". Und natürlich der Tradition des Opern-Prologs, besonders der wunderbare Anfang von Bartoks „Herzog Blaubarts Burg".


Wie schon beim Auftakt von HOLY MOTORS sind auch Sie selbst zu sehen...

Ja, und wieder mit meiner Tochter. Das hatte ich mir für mich, für sie und für unsere Hunde ausgemalt, nur dass ich die Hunde nicht mit nach Los Angeles nehmen konnte. Bei HOLY MOTORS war es wichtig, am Anfang des Films mit ihr zusammen zu sein. Vielleicht um mich selbst abzusichern, dass ich nach all den Jahren, in denen ich keinen Film gemacht hatte, nicht mehr als ein kleines, experimentelles Home-Movie drehen würde. Für mich sind diese beiden letzten Arbeiten experimentelle Filme. ANNETTE ist ein großer, HOLY MOTORS war ein kleiner. Ich stelle sie mir vor als „Filme, die ich gemacht habe, seitdem ich ein Vater wurde".


Ein Vergleich dieser beiden Filme ist interessant. HOLY MOTORS war ungeheuer experimentell, und auf ANNETTE trifft das auch zu. Und doch lässt sich ein durchaus traditioneller Handlungsbogen entdecken.

Mehr als bei jedem anderen meiner Filme, würde ich sagen. Das kommt von den Sparks. Dieses düstere Märchen stammt von ihnen, und ich habe das respektiert.


Hatten Sie davor schon einmal das Bedürfnis, einen Film in Amerika zu drehen? 

Auf Englisch zu drehen, das ganz gewiss. Englisch ist meine Geburtssprache. Aber in Amerika zu drehen, nein, das stand nie weit oben auf meiner Agenda. Vor ungefähr 20 Jahren hatte ich ein Projekt mit dem Titel „Scars", eine Geschichte, die in Russland und Amerika angesiedelt war- in New York und auf der Straße Richtung Westküste. Und in den 1990ern gab es eine Adaption einer Vorlage von Peter lbbetson, die in Frankreich und den USA gespielt hätte. In den Jahren nach DIE LIEBENDEN VON PONT-NEUF war es mir unmöglich, wieder einen Film in Frankreich zu drehen. Da stand es schon im Raum, Filme in den Staaten zu machen. Das erschien möglich. Oder besser gesagt: weniger unmöglich.

ANNETTE startete als amerikanisches Projekt, mit Produzenten aus Los Angeles. Sie schickten mir unentwegt Emails, in denen auffällig oft das Wort „hyperexcited" auftauchte. Aber es ging nichts voran. Also nahm ich das Projekt zurück nach Europa.


Sie arbeiten nach Jean-Yves Escoffier mit der Kamerafrau Caroline Champetier und der Editorin Nelly Ouettier. Können Sie etwas über diese anhaltenden Kooperationen erzählen?

Als ich im Kino begann, war ich immer der Jüngste am Set, abgesehen von Hauptdarstellerin und Hauptdarsteller. Und ich habe in erster Linie mit Männern im Stab gearbeitet. Aber jetzt ist es fast das Gegenteil. Ich bin fast der Älteste beim Dreh, und ich arbeite fast nur mit Frauen. Ich habe Nelly bei der Arbeit an meinem zweiten Film kennengelernt, und wir haben seither nicht mehr aufgehört, miteinander zu arbeiten. Es fällt mir schwer, genau zu benennen, was sie so besonders und außergewöhnlich macht, weil ich ja im Grunde nie mit einer anderen Editorin gearbeitet habe. Also kann ich nur sagen: Sie ist wunderbar. Als Mitstreiterin ebenso wie als Mensch. Sehr loyal, sehr offenherzig. Wir streiten ziemlich viel, aber wir sind nicht nachtragend.

Caroline habe ich viel später kennengelernt, bei einem kleinen Film, den wir vor zwölf Jahren in Tokio gedreht haben (Anmerkung: „Merde", ein Beitrag für den Anthologiefilm „Tokyo!"). Ich hatte meine ersten drei Filme in den Achtzigerjahren mit Jean-Yves gemacht. Als er völlig überraschend in Los Angeles verstarb, wusste ich, dass ich nicht mehr auf Film arbeiten würde, arbeiten könnte. Nicht ohne ihn. Also entdeckte ich das digitale Kino durch die Augen von Caroline. Es war ein Albtraum, aber dank ihr auch ein Weg, mich selbst zu retten. Ich schulde ihr viel, auch sie ist eine sehr offenherzige und loyale Person. Ich fordere bei einem Film von meinen engen Mitstreitern viel Zeit ein. Caroline arbeitete mit mir an ANNETTE schon drei Jahre bevor die erste Klappe fiel. Nicht viele Kameraleute würden so etwas auf sich nehmen. Vielleicht niemand außer Caroline.


ANNETTE markiert eine Rückkehr zu dem Boy-meets-Girl-Thema Ihrer frühen Filme. Ich habe in Henry Merkmale von Alex (Denis Lavants Figuren in den ersten drei Carax-Filmen) und Pierre (Guillaume Depardieu in POLA X) entdeckt. Sie treffen jemanden, der ihnen spirituell ungemein nahesteht, aber weil sie ihren hohen Erwartungen an die Beziehungen und sich selbst nicht gerecht werden können, stürzen sie sich in einen Todestrieb, um sich selbst und die Beziehung zu zerstören. Können Sie eine Verbindung zwischen diesen männlichen Figuren entdecken?

Ich sehe eine Verbindung zwischen den Schauspielern: Denis, Guillaume, Adam. Zunächst einmal sind sie ausgesprochen interessante Menschen, und das trifft nicht auf alle Schauspieler*innen zu. Ich hatte Adam nur in der Serie „Girls“ gesehen und ich dachte mir, wie Prinz Myshkin, als er Nastasya Filippovna erstmals erblickt: „Was für ein außergewöhnliches Gesicht! " Und außerdem noch was für ein außergewöhnlicher Körper. Er erinnerte mich ein bisschen an Denis, auch wenn Denis ein kleiner Mann ist, wie ich, und ein Gesicht hat, das andere Menschen als „eigenartig“ beschreiben. Adam ist groß, mit einem schönen Gesicht, das manche vielleicht als „eigenartig" ansehen könnten. Guillaume und Adam haben eine vergleichbare Körperlichkeit: Sie sind kräftige, katzenartige, sehr attraktive junge Männer, die etwas Feminines ebenso ausstrahlen wie etwas Maskulines.

Was die Figuren anbetrifft, die sie spielen, kann es schon sein, dass es Ähnlichkeiten gibt. Sie wollen retten, aber sie zerstören. Aktuell arbeite ich an kurzen Videos für eine Ausstellung im kommenden Jahr (im Centre Beaubourg Pompidou, Mai bis Juni 2022). Einer der Beiträge behandelt männliche Figuren in Filmen, die von Männern gemacht wurden. Er heißt „Man, cinema forgives you everything". Vielleicht sollte ich noch ein Fragezeichen hinzufügen.


In seinen Auftritten redet Henry viel über Lachen. Aber das Lachen in Ihrem Film ist kein unbeschwertes, freudiges Lachen. Er benutzt sehr persönliche Aspekte seines Lebens als Material, andere Menschen zum Lachen zu bringen, und später setzt er Lachen als bedrohliche Waffe gegen seine Frau ein.

Das Lachen wird zu einer Frage von Leben und Tod. Wir mussten uns zwei sehr verschiedene Shows ausdenken, die in den größeren Erzählrahmen passen. Das war eine große Herausforderung. Harte Arbeit. Ich weiß nicht mehr, wie viele Versionen wir ausprobiert haben, alle jeweils sehr unterschiedlich voneinander. Und nachdem wir zunächst eigentlich vorgehabt hatten, dass alle Texte im Film gesungen werden, hieß das, dass wir Henrys Shows in Liedertexte fassen mussten - und obendrein musste es auf eine Weise lustig sein, wie man das von anderen Comedians noch nie gesehen hat. Ich habe mir daran die Zähne ausgebissen. Und dann kam mir eines Tages der Gedanke: Vielleicht muss Henry ja nicht wirklich alles singen. Er könnte mal singen, mal reden, mal Pantomime machen. Das war die Rettung, ich fühlte mich befreit.

Ich ließ mich bei dem Projekt von einer amerikanischen Freundin beraten, Lauren Sedovsky. Sie weiß in allen denkbaren Bereichen Bescheid: Kunst, Literatur, Philosophie... Sie erzählte mir von Paul Marguerittes Pantomime „Pierrot assassin de sa femme" aus dem Jahr 1881, in der Pierrot sich überlegt, wie er seine Frau auf die beste Weise töten könne und schließlich beschließt, sie zu Tode zu kitzeln. Das war die perfekte Inspiration für unsere Themen: Lachen, Atmen, Tod.


Stimmt, Kitzeln spielt eine wichtige Rolle in Ihrem Film. Damit wird Zuneigung ausgedrückt, aber es schwingt auch Gefahr mit, etwas Tabuloses. Man könnte sagen, dass es eine unzivilisierte Handlung ist.

Ja, kindlich und ungezügelt. Die selbe Form von Morbidität und Obszönität lässt sich auch im Singen und Lachen ausmachen. Und Sex. Kitzeln ist auch sehr sinnlich, etwas Sexuelles. Wenn man einen Film in Liedern erzählt, muss man all diese mehr oder weniger tabuisierten Dinge zeigen. Menschen beim Vögeln, Menschen, die alle möglichen Dinge tun, die man aus irgendwelchen Gründen sonst nie in Musicals sieht.


Hatte Adam Driver selbst Einfluss auf Henrys Monologe auf der Bühne?

Nicht auf die Texte selbst, aber auf ihre Darbietung dafür umso mehr. Normalerweise probe ich nicht. Niemals. Ich hasse es. Aber diese beiden Shows habe ich mit ihm geprobt, jede einen Tag lang, ganz zu Beginn des Drehs. Um Adam abzusichern. Und mich selbst. Wir kannten einander fast gar nicht. Ich musste auch kontrollieren, ob der Rhythmus dieser sehr langen Sequenzen stimmte und wie sich Henry auf der Bühne bewegen sollte. Wie er mit dem Mikrophon spielen würde. All diese Dinge. Und Adam schlug ganz viele Dinge vor. Diese Shows entstanden also als kreatives Zusammenspiel von den Sparks, Adam und mir.


Wie sah Ihre Arbeit mit Marion Cotillard aus?

Zunächst einmal traf ich mich mit einer Reihe amerikanischer Schauspielerinnen - Ann war ursprünglich als amerikanische Figur vorgesehen. Aber meine Ann war nicht darunter. Dann überlegte ich, ob es vielleicht Sängerinnen gäbe, die auch schauspielern können. Aber ich konnte sie immer noch nicht finden. Langsam wurde ich besorgt. Abgesehen von Geld und meinem Ruf gibt es einen weiteren Grund, warum ich so wenige Filme gedreht habe, und das ist das so genannte „Casting". Ich halte das für einen völlig unnatürlichen und absurden Vorgang. Immer, wenn ich mir ein Projekt ohne einen bestimmten Schauspieler oder eine bestimmte Schauspielerin vorstellte, ging es in die Hose. Ich konnte einfach nicht die Richtigen für die Rollen finden.

Ich fühlte mich also auch jetzt zum Scheitern verdammt. Was würde passieren, wenn ich meine Ann einfach nicht finden könnte? Könnte ich mich erstmals dazu überwinden, mit einer Schauspielerin zu arbeiten, obwohl ich sie eigentlich nicht hundertprozentig haben wollte? Ein paar Jahre, bevor wir ANNETTE dann tatsächlich drehen konnten, traf ich mich mit Marion. Große Hoffnungen machte ich mir nicht, wenn ich ehrlich bin. Aus irgendeinem Grund war ich 
überzeugt, dass wir einander nicht leiden können würden. Ich war völlig überrascht, dass ich sie stattdessen sofort mochte und an sie als Ann glaubte. Aber wie könnte es anders sein, es gab ein Problem: Marion war schwanger, also konnten wir uns den angestrebten Drehtermin abschminken.

Aber der Film wurde ohnehin ständig verschoben, weil sich Finanzierung und Produktion wie üblich als großes Durcheinander erwiesen. Dreimal musste ich den Produzenten wechseln, all diese Sachen. Zwei Jahre später bot ich Marion den Part noch einmal an, und Adam und ich waren überglücklich, als sie zusagte. Während des Drehs, und heute immer noch, war ich sehr dankbar, was sie zum Film beitrug. Marion hat den Anmut und die geheimnisvolle Aura 
einer Schauspielerin aus der Stummfilmzeit. Ich hätte sie gern noch mehr gefilmt.


Wie kamen Sie auf Simon Helberg für die Rolle des Dirigenten?

Wieder die gleiche Geschichte. Während all der Jahre vor dem Dreh konnte ich nicht den richtigen Schauspieler für die Rolle finden, einen Schauspieler, der wirklich Klavier spielen können musste, singen, und den ich gerne ablichten wollte. Ich hatte Simon noch nie davor in einem Film gesehen. Wir haben uns nur auf einen Drink getroffen. Auch er erwies sich als großes Glück für den Film. Simon ist ganz besonders, eine Elfe, und die Kamera liebte den Kontrast zwischen ihm und Adam.


In ANNETTE ersetzen die Lieder den regulären, naturalistischen Dialog. Man gewöhnt sich daran, dass sich die Figuren gegenseitig mit Gesang mitteilen. Wie sind Sie zu dem Punkt gekommen, dass die Lieder sich anfühlen wie ganz normale, entspannte Unterhaltungen. Und wie haben Sie das Ihren Schauspielern kommuniziert?

Die erste Entscheidung war, dass ich die Schauspieler live singen ließ. Für mich eine selbstverständliche Wahl, aber für alle involvierten nicht ganz so einfach umzusetzen - die Leute vom Ton, die Kameraleute, die Geldleute, und die Schauspieler natürlich. Es impliziert, dass es nicht so sehr um die Performance geht. Das Singen kommt natürlicher rüber, wie atmen. Es ist ziemlich bewegend, wenn man es umsetzt. Und ebenso bewegend, wenn man es sieht.

Adam fiel es leichter als Marion, denke ich. Marion fand immer, dass ihre Stimme besser sein könnte. Adam hat sich weniger gequält. In dem Moment, in dem die Kamera lief und wir drehten, war er ein Schauspieler, kein Sänger. Mir gefällt, wie die beiden im Film singen, jeder auf seine ganz eigene Weise.


Die Liebesgeschichte zwischen Henry und Ann ist sehr komplex, aber die Bilder sind wie aus einem Bilderbuch, sehr fantastisch.

In Frankreich haben wir einen Begriff für diese Art von Klischeebildern - Roman-Photo. Das steckte selbstverständlich bereits im ursprünglichen Treatment der Sparks. Ich habe das mit Bedacht eingesetzt, weil es Ironie einlädt, die wiederum entwaffnend ist und schnell ermüden kann. Dann wiederum ist es interessant als Kontrapunkt zu dem, was kommen wird.

In all meinen vorherigen „Junge trifft Mädchen"-Filmen lernen sich die Liebenden erst im Verlauf des Films kennen. Aber in ANNETTE ist klar, dass sie sich gerade kennengelernt haben, kurz bevor die Handlung des Films einsetzt. Mir gefiel die Idee, aber sie ist nicht so leicht umzusetzen, nicht das Treffen zu zeigen, nur die Schüchternheit, das Ungelenke, das Zögerliche einer jungen Liebe.


Ich erinnere mich, dass Sie mir einmal gesagt haben, dass Filme oft mit einem einzelnen Bild für Sie beginnen. Trifft das auch auf ANNETTE zu, gab es einen speziellen Trigger?

Weil es nicht ein Originalprojekt von mir war, sondern eine Idee der Sparks, muss ich sagen, dass am Anfang von ANNETTE wirklich die Musik steht, ihre Musik. Das Schwindelgefühl der Musik. Und obwohl die Musik zwar offensichtlich nicht die meine ist, fühlte ich mich oft mehr wie ein Komponist als ein Filmemacher. Was vermutlich auch immer wieder auf meine anderen Projekte zutrifft, wenn ich darüber nachdenke.

Ich hatte keine speziellen Schauspieler vor Augen. Und ganz besonders hatte ich keine Vorstellung, wie ich ein Baby zeigen sollte, von seiner Geburt bis es sechs Jahre alt ist... Ein Baby, das singen kann, wohlgemerkt.... Der Film schien mir unmöglich zu machen sein. Aber ich bin das gewohnt. Jeder Film sollte unmöglich zu machen sein.

Das erste Bild, das ich schließlich vor mir hatte, war eher ein Gefühl oder eine Intuition: ein winziger Stern, allein und verloren in der Finsternis der Unendlichkeit - die Winzigkeit von Annette angesichts der Welt. Und dann musste ich an Masha denken, ein kleines ukrainisches Mädchen. Vor Jahren lebte ich mit ihrer jungen Mutter und ihr in Ukraine. Sie war damals zwei Jahre alt, ein wunderbares Kind. Manchmal sah sie fast so aus wie eine alte Dame; aber sie 
war wunderschön, auf eine sehr spezielle Weise war ich sehr bewegt davon. Masha war die Inspiration für die Annette, die wir im Film sehen.


Sie haben einmal gesagt, dass Animation nicht Ihr Ding sei. Geht es Ihnen immer noch so?

Ja. Ein paar Minuten kann ich genießen. Wenn meine Tochter unbedingt darauf besteht, sehe ich mir mit ihr beispielsweise einen Miyazaki an, aber wirklich interessiert oder involviert bin ich nicht. Ich mag echte Bewegung. Und meine Liebe zum Kino beginnt mit: ein Mensch, der einen anderen Menschen ansieht. Ein Mann, der eine Frau seiner Wahl filmt. Eine Frau, die einen Mann ihrer Wahl filmt. Ich drehe gerne Natur, Städte, eine Pistole, Motoren, Feuerwerke und Explosionen. Aber vor allem und ganz besonders brauche ich ein Gesicht, einen menschlichen Körper. Haut, Augen - und die Emotionen, die sich in ihnen spiegeln.


Annette ist zunächst eine Holzpuppe. Wie sind Sie zu dieser Entscheidung gekommen?

Wie das bei Entscheidungen oft so ist, indem man davor „Nein, nein, nein“ zu vielen anderen Ideen gesagt hat. „Nein“ zu einem digitalen Baby. „Nein“ zu 3D-Grafiken. Aus persönlichen Geschmacksgründen; und wegen dem, was man „uncanny valley" nennt (ein Konzept, das besagt, dass humanoide Objekte, die menschliche Wesen perfekt nachgestalten, im Zuschauer unweigerlich Gefühle von Grusel und Ablehnung auslösen). Bei einem kleinen Kind wäre es noch viel „uncannier" gewesen. Und wenn man es digital macht, findet die ganze Arbeit in der Postproduktion statt. Das macht es anti-emotional. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, den Film zu drehen und Annette nicht mit uns am Set zu haben, ob sie nun allein für sich ist oder auf Armen getragen wird.

Dann sagte ich „Nein“ zum Einsatz von Robotics oder Animatronics: Annette musste jemand sein, jemand, den ich verstehen könnte, kein Computer. Etwas Einfaches, Handgemachtes. Also kam ich auf eine Puppe. Ich wusste nichts über Puppenspiel - aber ich hatte die Hoffnung, dass jemand wenigstens in der Lage sein würde, eine emotionale Puppe zu erschaffen.


Da sind Sie ein großes Risiko eingegangen.

Aber ein aufregendes! Hatte ich denn eine Wahl? Wohl zum ersten Mal musste ich mir einen Kopf über ein künftiges Publikum machen: Würden die Zuschauer einen Film akzeptieren, in dem aus heiterem Himmel eine Puppe mitspielt, ohne dass jemals jemand im Film anmerkt, dass es sich bei ihr um eine Puppe handelt? Ein Film, in dem keine der anderen Figuren, gespielt von echten Menschen, sie als Puppe sieht (außer vielleicht Henry). Aber der Film ist ein Musical, und ich drehe so oder so keine naturalistischen Filme, also befinden wir uns ohnehin in einer Realität, die nicht von dieser Welt ist.

 Ich sah die Szene, in der Ann Annette zur Welt bringt, als eine Möglichkeit an, dem Publikum eine Babypuppe vorzustellen. In der Welt des Films ist sie ein echtes Baby, aber wir sehen natürlich sofort, dass sie kein Kind aus Fleisch und Blut ist.


Wie haben Sie die Puppenspieler gefunden?

Anfangs war ANNETTE ein amerikanisches Projekt, also arbeitete ich mit Skulpteuren in Los Angeles. Als sich der Film dann zu einer französisch-japanischen Koproduktion wandelte, arbeitete ich mit einer Puppenspielerin in Tokio. Aber ich konnte Annette einfach nicht sehen, konnte sie nicht finden. Es war ein Albtraum. Und dann traf ich Gisele Vienne, eine begnadete Künstlerin, Theaterregisseurin und Choreographin. Wie Rimbaud wurde sie in Charleville geboren, der aktuell renommierteste Ort auf der Welt für Puppenspiel. Sie stellte mir ein paar Leute vor, mit denen sie damals dort zur Schule gegangen war, an der National School for Puppetry Arts.

Auf diese Weise lernte ich eine junge Frau namens Estelle (Charlier) kennen. Ich mochte sie auf Anhieb, glaubte an sie. Ich gab ihr ein paar Fotos der kleinen Masha, und ein paar Wochen später schickte sie mir Bilder ihrer ersten Version von Annette, ganz roh und wunderschön. ANNETTE schien auf einmal greifbar nah. Estelle stellte mir dann Romuald (Collinet) vor, der mit ihr in Charleville studiert hatte. Sie hatten seither immerwieder zusammengearbeitet, haben ihre eigenen Puppen hergestellt und Shows auf die Beine gestellt. Sie erschuf Annettes Gesichter in den verschiedenen Altersstufen, und er kümmerte sich um Annettes Körper und all die technischen Aspekte. Estelle und Romuald haben den Film gerettet.


Waren sie mit Ihnen am Set?

Ja. Immer wenn Annette gefragt war, waren sie zur Stelle. Sie haben die Puppe bedient- mit ein oder zwei weiteren Puppenspielern, je nachdem. Oder sie waren in der Nähe, wenn ich mit den Schauspielern gedreht habe und probierten im Hintergrund Dinge für kommende Szenen aus, die sie mir dann auf Videos zeigten. Adam, Marion und Simon waren manchmal auch als Puppenspieler gefragt, aber Estelle und Romuald waren nie weit weg, versteckten sich irgendwo, unter Betten und so.


Das ist eine außergewöhnlich handgemachte Vorgehensweise für einen Film, der in der heutigen Zeit gedreht wird.

Wir sind sehr stolz darauf. Den einzigen Luxus, den wir uns in der Postproduktion leisteten, war das Entfernen der Puppenspieler, wenn es uns beim Dreh nicht gelungen war, sie unsichtbar zu machen. 


Sie haben das Wort „echt“ gebraucht. Das Kino ist ein Medium, das um Realität ringt, und doch haben Ihre Filme eine zunehmend erhöhte Künstlichkeit angenommen. Mich würde interessieren, wie Sie dazu stehen, dass Ihnen einerseits das Handfeste und Wahrhaftige so wichtig ist, Sie sich aber an Künstlichkeit abarbeiten, um zu diesem Ziel zu gelangen.

Die Frage nach dem Zusammenspiel zwischen Kino und Realismus ist uralt. Ich habe nie wirklich verstanden, was Realismus überhaupt sein soll. Jeder Filmemacher muss seine eigene Form von Klassizismus erfinden - seine filmische Realität. 

Ich habe von Anfang an gern in gebauten Sets gedreht, Perücken, Prothesen und solche Dinge verwendet. Bei meinem zweiten Film habe ich die Haare meiner Schauspieler gefärbt und farbige Kontaktlinsen verwendet. In meinem dritten Film waren die Pariser Brücken und deren Umgebung Kulissen, errichtet auf dem Land im Süden von Frankreich. Mr. Merde ist ganz offenkundig eine komplette Erfindung: falscher Bart, Nägel, Augen, alles fake. Und die gesamte Welt von HOLY MOTORS ist hin- und hergerissen zwischen Künstlichkeit und Realität. Ein paar Filmemacher mag ich, die die nackte Realität abbilden. Ich bewege mich immer weiter davon weg, je künstlicher, desto besser. Ich hoffe indes, dass meine Filme real sınd.


Es gibt immer wieder Einblendungen aus einem Promijournal, „Showbiz News". Ist Berühmtheit und dass sie im Jahr 2021 eine zerstörerische Kraft sein kann, ein Thema Ihres Films?

Das hat mehr mit dem Roman-Photo-Aspekt des ersten Teils von ANNETTE zutun. Das Paar ist „reich und berühmt". Mir fällt es irre schwer, reiche Menschen zu filmen. Das lronieproblem, wieder mal. Die zwei Filme, in denen ich reiche Menschen zeige, POLA X und ANNETTE, sind die einzigen beiden, die nicht auf Geschichten basieren, die ich mir selbst ausgedacht habe (POLA X ist eine Adaption von Herman Melvilles Roman „Pierre oder die Doppeldeutigkeiten"). Leider bin ich nicht Douglas Sirk, und die Zeiten haben sich doch sehr geändert seit den Fünfzigerjahren, als man die Reichen und Berühmten noch ansehen konnte als Stellvertreter der eitlen und verletzlichen Götter der griechischen Tragödie. Aber Erfolg ist eine interessante Sache - dieses Thema behandle ich auch in POLA X. Ob man ihn will oder nicht und dann erzielt oder nicht und ob dieser Erfolg dann auch ein persönlicher Erfolg ist, ob er einen wachsen lässt oder schrumpfen.


Anns Berühmtheit ist ein steter Ouell, dass Henry sich unwohl fühlt. Das erinnert mich an A STAR IS BORN. Er spricht im Zusammenhang ihres Erfolgs oft in abschätziger Weise von sich selbst, und das füttert etwas in ihm, was man heute wohl als toxische Maskulinität bezeichnet.

Ich hatte beschlossen, dass Henry aus einem armen und gewalttätigen Elternhaus kommt. Und dann ist das der Umstand, dass Oper oft als hohe, feine Kunst angesehen wird, während man Stand-Up-Comedy als populäre und vielleicht gar als vulgäre Kunst erachtet. Das hat Züge eines Klassenkampfes in meinem Film. Aber wie es bei so vielen Liebesgeschichten der Fall ist, sind es ja gerade die enormen Diskrepanzen, wegen derer sie sich überhaupt ineinander verlieben - in der Presse werden sie beschrieben als „Schöne und der Bastard“. Aber dann wird Henry zu einem dieser Typen, die eine Stripperin in einem Stripschuppen sehen, sich in sie verlieben, sie heiraten und sie dann verprügeln, weil sie eine Stripperin ist.


Eine Zeile aus einem der Auftritte von Henry ist bei mir hängengeblieben: „Komödie ist die einzige Möglichkeit, die Wahrheit zu sagen, ohne ermordet zu werden."

Oscar Wilde hat etwas in der Art gesagt. Aber wir alle müssen da durch. Wir alle müssen einen Weg finden, die Wahrheit zu sagen, ohne dafür getötet zu werden. Und damit meine ich die Wahrheit über uns selbst.


Und wie sieht es mit dem Motiv der Affen in Ihrem Film aus?

Als ich klein war, hatte mein Vater ein Schimpansenweibchen, Zouzou. Sie war sehr eifersüchtig. Er hielt sie an einer langen Kette im Badezimmer neben dem Schlafzimmer der Eltern. Nachts sprang sie auf das Bett und griff meine Mutter an. Ein paar Jahre später hatte ich dann selbst zwei Affen, Sal' und Miri, kleine Tiere mit langen Schwänzen. Es war eine sehr traurige, morbide Erfahrung. Sie wurden krank, dehydrierten. Ich packte sie mit etwas Baumwolle in eine kleine Schublade meines Schreibtischs. Jedes Mal, wenn ich die Schublade geöffnet habe, habe ich sie zittern gesehen. Schließlich mussten wir sie einschläfern lassen. Affen stehen für gefährliche Wildheit ebenso wie für Märtyrertum. Ich liebe sie.

Wie kamen Affen in ANNETTE? Wie so oft war der Hintergrund eine Abfolge von Zufällen. Ich suchte nach einem Titel für Henrys Show und erinnerte mich daran, dass ein Theologe in ferner Vergangenheit Satan einmal „Le singe de Dieu" genannt hatte. Also gab ich der Show den Titel „The Ape of God", das klingt wie der Bühnenname eines Wrestlers. Dann schlugen die Puppenspieler vor, dass Annette ein eigenes Spielzeug bekommen sollte, einen Teddybär, und mir gefiel die Idee einer Puppe, die selbst ein kleineres Wesen bedient. Aber ich wollte einen Affen haben, keinen Bären. Und dann sah ich, was sich eine der jungen Puppenspielerinnen für eine ihrer eigenen Shows hatte einfallen lassen, eine große King-Kong-Puppe. Die wollte ich unbedingt im Film unterbringen. Nach und nach machten sich die Affen breit in unserem Film und wurden ein Bindeglied zwischen Vater und Tochter, zwischen Wildheit und Kindheit.


Die Szene, in der sich sechs Frauen melden und Henry beschuldigen, er habe sie missbraucht, fühlt sich an wie eine Traumsequenz, weit entfernt von der Realität des Films. Ann befindet sich im Auto, schläft gerade ein...

Es fiel schwer mir vorzustellen, wie es sich darstellen lässt, dass Henry in Ungnade fällt. lm ursprünglichen Treatment des Films wird er einfach immer erfolgloser. Aber ich wollte, dass es ein Knall ist, von heute auf morgen passiert. Also begann ich mir zu überlegen, was in einer seiner Shows falschlaufen könnte. Einigen realen Comedians ist das ja wirklich passiert. Michael Richards, den alle Welt kennt als Kramer in der Sitcom „Seinfeld", ließ eines Abends bei seiner Show einen wilden rassistischen Rant vom Stapel und hat sich nie wieder davon erholt. Dieudonne war ein sehr erfolgreicher französischer Stand-up-Comedian, politisiert von der Linken. Aus irgendeinem Grund lief er zur extremen Rechten über, seine antisemitischen Provokationen haben seine Karriere mehr oder weniger gekillt. Und Bill Cosby wurde der Vergewaltigung von Frauen für schuldig befunden und musste dafür hinter Gitter.

Aber diese Fälle, voller Gewalt, Sex und Rassismus, waren ein bisschen zu real für unseren Film. So etwas hätte aus Henry doch zu deutlich einen Bösewicht gemacht, an einem viel zu frühen Zeitpunkt im Film. Also dachte ich mir: Erst einmal macht er nichts Schlimmes, er fantasiert über etwas Schlimmes und wird dafür von den Menschen abgelehnt, gehasst - denn die Wahrheit von Komödie hat ihre Grenzen. Und dann sollte Ann auch schreckliche Visionen von ihm haben. Er hat Visionen von ihr, wie sie immer und immerwieder auf der Bühne stirbt. Und sie träumt davon, dass er beschuldigt wird, Frauen missbraucht zu haben.


Können Sie erklären, warum die #metoo-Kultur Teil von ANNETTE sein sollte?

Eigentlich war das nicht meine Absicht gewesen. #metoo hatte noch nicht stattgefunden, als wir uns den Film vorstellten. Aber es lag schon in der Luft. Mehr und mehr Frauen gingen an die Öffentlichkeit.


Foto:
©Verleih

Info:
Besetzung & Stab
Henry McHenry.     Adam Driver
Ann Desfranoux.    Marion Cotillard
The Conductor.      Simon Helberg
Annette                  Devyn McDowell
Sparks.                  Russell Mael
Sparks                   Ron Mael

Regie                     Leos Carax
Drehbuch               Ron Mael, Russell Mael, Leos Carax
Originalidee, Musik & Lyrics      Ron Mael, Russell Mael

Abdruck aus dem Presseheft