Drucken
Kategorie: Film & Fernsehen
AnnikaSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 15. September 2022, Teil 11

Redaktion

Berlin (Weltexpresso)  – Seit ich selbst Kinder habe, sehe ich meine eigene Mutter mit anderen Augen. Ich frage mich, wie sie und Generationen von Müttern vor ihr es geschafft haben, ihren Töchtern Selbstvertrauen zu geben, ohne die Privilegien der Männer. Welche Kämpfe hat sie gekämpft, welche Opfer gebracht, dass ich heute sagen kann: Ich möchte Filme machen? Es gibt wenige positive Darstellungen von starken Mutter-Tochter-Beziehungen in kulturellen Erzählungen.

Das Thema ist historisch so untererzählt, dass es für mich fast einer Verantwortung gleichkam, einen Film über Mütter und Töchter zu machen. Alle die Geschichten der Frauen vor mir, die für immer im Verborgenen bleiben, weil sie keinen Zugang zu Kunst und Kultur hatten – ein Verlust, der niemals nachzuholen ist. Was hätte alles zu meiner Identitätsfindung beitragen können, als Tochter, als Mutter und auch als Filmemacherin? Es ist mühselig, wenn Selbstverständlichkeiten, Vorbilder und Überlieferungen der Vordenkerinnen fehlen. Vielleicht ist es bezeichnend, dass ich erst mit Ende dreißig meinen ersten Langfilm gemacht habe. Es ist selbstverständlich nicht nur eine Frage des Geschlechts, sondern auch eine des sozialen Status.

Damit sind wir thematisch auch schon mitten im Film und bei meiner Protagonistin Clara. Clara hat sich von den gesellschaftlichen Erwartungen als Frau und Mutter und zeitgleich von ihrem provinziellen Herkunftsmilieu emanzipiert. Sie hat den sogenannten Bildungsaufstieg geschafft, macht ihren Doktor in Philosophie und sucht nun nach ihrem Platz im Bildungsbürgertum. Immer begleitet von Scham und Minderwertigkeitskomplexen, weil Herkunft nichts ist, was man einfach abstreifen kann. Gleichzeitig bedeutet ihr „Aufstieg“ aber auch Trennung von ihrem Herkunftsmilieu, in das sie nicht einfach zurückkehren kann.

Ihre Identität hat mit Abgrenzung zu tun, und ihr Alltag ist geprägt von Widersprüchen, hin- und hergerissen zwischen Familie, Herkunft und beruflichen Ambitionen. Am Ende bleiben die Fragen: Was ist der Preis, den Frauen für ein selbstbestimmteres Leben zahlen und wer profitiert davon?

Filmemachen beginnt bei mir immer mit den Charakteren. Beim Schreiben und auch in der Inszenierung interessieren mich die unbewussten Verhaltensweisen und Prägungen meiner Figuren, ihre subtilen Gewohnheiten und ihr banaler Alltag, außerdem ihr Status im Familien- und Beziehungsgefüge. Ich glaube, es braucht nur diese vermeintlich schnöden Gewohnheiten und das ständige Reproduzieren der bekannten Rituale (übers Wetter reden), um gesellschaftliche (Macht-) Strukturen aufzuzeigen.

Im Banalen kann eine ganze Welt liegen, wenn es mir gelingt, eine gute Szene daraus zu machen: Wenn Inges (Claras Mutter) emotionale Überforderung und ihre Sprachlosigkeit in oberflächliche Floskeln und banale Geschäftigkeit münden, zeigt sich für mich am eindringlichsten Claras Sehnsucht nach echter Kommunikation und Begegnung mit ihrer Mutter. Wie kann ich etwas sichtbar machen, das so einfach und unaufgeregt daherkommt? Wie zeigen, was alles darunter liegt, wenn man den Blick genug schärft? Wie kann ich realistisch erzählen und trotzdem eine filmische Form finden, die das Publikum interessiert und mitfühlen lässt? Wie kann ich zeigen, dass selbst die kleinste Handlung im intimsten, familiären Kontext politische Dimensionen hat? Das sind Fragen, die mich als Regisseurin begleiten. 


Biografie Annika Pinske
Annika Pinske ist in Frankfurt/Oder aufgewachsen. Parallel zu ihrem Studium in Philosophie und Literaturwissenschaften arbeitete sie für den Regisseur René Pollesch an der Volksbühne, gefolgt von einer kreativen Assistenz für die Regisseurin Maren Ade (TONI ERDMANN). Seit 2011 studiert Annika Pinske Regie an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb).
Mit ihrem ersten Kurzspielfilm SPIELT KEINE ROLLE war sie für den Deutschen Kurzfilmpreis 2015 nominiert. 2016 gewann sie den Deutschen Kurzfilmpreis in Gold mit ihrem zweiten Kurzfilm HOMEWORK. ALLE REDEN ÜBERS WETTER ist ihr Abschlussfilm an der DFFB.

FILMOGRAPHIE
2022 ALLE REDEN ÜBERS WETTER (Spielfilm, 89 min.), Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin in Ko-Produktion mit New Matter Films, pennybooth productions, RBB –Berlinale Panorama 2022
2016 TASCHENGELD (Kurzfilm, 12 min.), Deutsche Film– und Fernsehakademie Berlin –Hofer Filmtage, Filmfest Dresden, Achtung Berlin, Kurzfilmwoche Regensburg
2016 HOMEWORK (Kurzfilm, 7 min.), Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin –Filmfest Dresden, Clermont-Ferrand, Leeds International Filmfestival,
exground filmfest Deutscher Kurzfilmpreis in Gold 
2015 SPIELT KEINE ROLLE (Kurzfilm, 27 min.) Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin–Filmfest Dresden, Filmfestival Max Ophüls, Nominiert für den Deutschen Kurzfilmpreis

Foto:
©Verleih

Info:
Stab

Regie, Buch:     Annika Pinske
Ko-Autor:          Johannes Flachmeyer

Darsteller
Anne Schäfer                     Clara
Anne-Kathrin Gummich.    Inge
Judith Hofmann                 Margot
Marcel Kohler                    Max
Max Riemelt                      Marcel
Emma Frieda Brüggler      Emma
Thomas Bading                 Prof. Brandis
Sandra Hüller                    Hannah
Christine Schorn               Charlotte
Alireza Bayram                  Faraz
Exmann                             Ronald Zehrfeldt