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Kategorie: Film & Fernsehen
Bildschirmfoto 2022 11 02 um 23.07.47Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 27. Oktober 2022, Teil 3

Redaktion

Berlin (Weltexpresso) –  Johann, was hat Dich überzeugt, dass Deine Erinnerungen bei Hans-Christian Schmid in den richtigen Händen sind?

Johann Scheerer:
Da muss ich etwas ausholen: Als ich die Buchvorlage des Films „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ 2017 geschrieben habe, ging es mir in erster Linie darum, die Deutungshoheit der Geschichte, die zuvor ja lange Jahre und im Grunde bis zum heutigen Tag durch die Medien ging, wieder zu mir zu holen. Es war also ein Akt der Selbstbestimmung. Es gab nach der Buchveröffentlichung viele Angebote für eine Verfilmung, die ich erst mal alle abgelehnt habe. Nicht zuletzt, weil in den Jahren davor immer wieder Filmangebote an meine Familie herangetragen wurden, die Entführung an sich zu verfilmen, worauf niemand von uns Lust hatte. Mein Blick auf eine Verfilmung hat sich erst gewandelt, als ich HansChristian kennen gelernt hatte. Denn mir wurde klar, dass die generelle Frage: soll es eine Buchverfilmung geben – ja oder nein – gar nicht zu beantworten ist, weil man ja gar nicht weiß, worüber man spricht. Eine schlechte Verfilmung will man natürlich nicht, eine gute Verfilmung will man vielleicht schon. Dann habe ich mich mit all diesen Filmemacher*innen getroffen, und dachte, dass das nur mit Hans-Christian für mich zu machen ist. Und das hat unterschiedliche Gründe: der Wichtigste aber – und das war schon bei unserem ersten Treffen klar – ist der, dass er jemand ist, der sehr vorsichtig und sehr genau hinschaut und in der Lage ist, Familienpsychogramme in seinen Filmen zu zeichnen, die eine emotionale Präzision mit sich bringen, die mich wahnsinnig beeindruckt hat.


Und dann hast Du ihm und Michael Gutmann bei der Drehbuchadaption freie Hand gelassen?

Johann: Ja, selbstverständlich. Denn genau um diesen Vorgang ging es mir. Die Verfilmung des Buches ist der Schritt, die wiedergewonnene Deutungshoheit abzugeben oder – besser und genauer – abgeben zu können. Dazu kommt, dass Hans-Christian und Michael Gutmann die einzigen Menschen sind, die mit allen Beteiligten dieser Entführung gesprochen haben. Mit meiner Mutter, mit mir, mit der Polizei, mit den Menschen, die während der Entführungszeit bei uns im Haus ein- und ausgegangen sind und auch denen, die letztendlich die Geldübergabe organisiert haben. Das hatte es vorher noch nicht gegeben. Und somit haben die beiden einen wirklich umfassenden Blick auf die Situation gewinnen können, einen quasi Lagebericht. Sie konnten eine Kartierung der einzelnen Charaktere und Vorgänge dieser Entführung erstellen, um dann anhand meines Buches einen Film zu machen, der nochmal etwas anderes kann als das Buch selbst. Ich bin mir relativ sicher, dass ich, hätte ich mich mehr eingemischt – was mir durchaus mehrfach angeboten wurde – den Film nicht hätte besser machen können. Sondern nur mehr wie mein Buch, und das war nicht die Absicht.


Du spielst jetzt schon zum zweiten Mal eine Person, die tatsächlich existiert – nach der eindrucksvollen Leistung in „Udo Lindenberg – Mach Dein Ding“. Wie beeinflusst das Dein Spielen?


Claude Heinrich: Auf der einen Seite ist es leichter eine Person zu spielen, die wirklich existiert, da es möglich ist über diese Person zu recherchieren und so einen Einblick in ihr Leben und Verhalten zu bekommen. Johanns Buch habe ich schon im Castingprozess gelesen, es war für die Rollenentwicklung sehr hilfreich, da es die Situation und Johanns Gedanken zu dieser Zeit sehr detailliert beschreibt. Zudem hatte ich mir zuvor Dokumentationen und Artikel angeschaut. Die Produktion stellte uns außerdem ein umfangreiches Info-Paket bereit. Bei einer fiktiven Rolle ist diese Information nicht vorhanden, obwohl das Drehbuch oft schon einen guten Einblick in das Leben der Rolle bietet.


Johanns Buch ist reich an Schulerinnerungen, hast Du da viel aus Deinem Alltag wiedererkannt – oder ist das schon eine andere Generation, die da erzählt?

Claude: Ich denke, mein Schulalltag ist im Prinzip ähnlich. Einige Dinge im privaten Alltag, mit einem Walkman Musik hören und Videokassetten schauen, sind heute anders, es gibt technologische Fortschritte und das Internet. Aber ich habe mich schon wiedergefunden in dem Buch. Das Buch ist einfach sehr, sehr gut. Als die Polizisten kamen und ihre vielen Geräte aufbauten, die wie aus einem Agentenfilm wirkten, war ich, wie Johann, ziemlich beeindruckt.


Wie ist es überhaupt, wenn man als Kinderschauspieler anfängt und dann langsam ins Erwachsenenfach wechselt. Ist das eine große Umstellung? Muss man seine Unschuld aufgegeben und ganz viel dazu lernen?

Claude: Als Kinderschauspieler anzufangen ist auf jeden Fall etwas Positives, da man schon in jungen Jahren Erfahrung sammeln kann und so auch der Übergang zu den älteren Rollen leichter wird. Da man selbst ja auch älter wird, wächst man quasi mit seinen Rollen mit. Jede Rolle und jeder Filmdreh bieten viel Neues und sind ein Lernprozess.


Johann ist ja ein ungewöhnlicher Protagonist, weil er eher beobachtet und gleichsam mit dem Publikum begreifen lernt, was geschieht. Das wiederum gibt dem Film eine eindringliche Spannung und Faszination. Dazu gehört auch eine Unsicherheit, welche Gefühle man in einer so fremdartigen Situation zeigen kann. 

Johann: Ich glaube, das ist etwas, was ein Film vielleicht sogar grundsätzlich besser kann als ein Buch, nämlich die Sprachlosigkeit zu zeigen. Diese wortlose Kommunikation der Protagonisten im Film ist eine große Stärke der Schauspielerinnen und Schauspieler, die das umgesetzt haben. Ich kann nur meine größte Bewunderung für Adina und Claude aussprechen. Ich finde es eine große schauspielerische Leistung – gerade auch bei Claude – so wenig zu machen. Diese Sprachlosigkeit zu zeigen und das Publikum spüren zu lassen, bekommt Claude eben mit wenigen Gesten und Gesichtsausdrücken hin.


Johann, warum ist es Dir in der Vergangenheit nicht gelungen, Verständnis für Deine traumatische Erfahrung zu finden? 

Johann: Die Entführung meines Vaters hat im deutschsprachigen Raum große Wellen geschlagen. Die Presse berichtet im Grunde bis zum heutigen Tag darüber, und sobald Menschen davon hören, sieht man förmlich die Assoziationsblasen über ihren Köpfen aufgehen; die haben dann immer mit Vorstellungen von viel Geld oder irgendeinem besonders spektakulären Verbrechen zu tun, und sobald es diesen Moment gibt, erschwert es eine zwischenmenschliche Unterhaltung ungemein. Ich trage nun einen anderen Nachnamen als mein Vater, aber durch das Internet ist seit Jahren, fast seit Jahrzehnten da gar keine wirkliche Trennung mehr möglich. In den Begegnungen, die ich in meinem Leben hatte, konnte ich immer sehr klar den Moment ausmachen, wenn Menschen herausgefunden haben, was mein familiärer Background ist. Das war unter anderem der Grund, warum ich mein erstes und dann auch mein zweites Buch geschrieben habe: weil es mir die Möglichkeit gab, auf etwas verweisen zu können, so nach dem Motto: lest euch lieber das durch und bildet euch dann selbst eine Meinung, als euch irgendetwas vorzustellen anhand von Überschriften in irgendeiner Zeitung.


Kann es sein, dass diese Geschichte Lebensbereiche berührt, die wir so gut verdrängt haben, dass wir mit ihrer Gegenwart dann überfordert sind? Wie der Möglichkeit eines plötzlichen Todes?

Johann: Das ist eine interessante Frage, weil ich glaube, gerade Teenager leben mit der Angst, in bestimmten Situationen das falsche Gefühl haben zu können. Als zum Beispiel mein Vater entführt wurde und meine Mutter mir das sagte, war ich erst einmal erleichtert, weil ich wusste, ich muss die Lateinarbeit nicht schreiben. Man hat aus Filmen und Büchern die Idee, dass es bestimmte Gefühle zu bestimmten Situationen gibt und wenn die Realität dann davon abweicht, hat man jahrelang ein schlechtes Gewissen und ist überfordert und fühlt sich falsch. Man denkt, man reagiert falsch. Ich bin mir mittlerweile sicher, dass das universelle Probleme sind, dass es eben nicht nur mir so ging, sondern dass es anderen, vielen, vielleicht sogar jedem mal so ging. Die Möglichkeit, über die Bücher, die ich geschrieben habe, oder eben jetzt über diesen Film, über diese Gefühle ins Gespräch zu kommen, ist natürlich toll.


Das Buch wirkt so gut erinnert, dass man das Gefühl hat: Du hast Dich schon vor dem Schreiben sehr intensiv mit all diesen äußeren und inneren Abläufen beschäftigt, und es musste dann einfach raus ... 

Johann: Der Schreibprozess an sich war nicht so lang, der ging nur ein paar Wochen, wenige Monate. Allerdings habe ich 20 Jahre vorher drüber nachgedacht, also könnte man genauso gut sagen, ich habe 20 Jahre an dem Buch geschrieben, das wäre auch nicht falsch. Außerdem ist es so, es gibt bestimmte, eindrückliche Dinge im Leben, die vergisst man nicht, da vergisst man auch kein einziges Detail. Ich erinnere da mal an Wolf Biermann, der in seiner Autobiografie sehr eindrücklich beschreibt, wie er als kleiner Junge durch den Hamburger Feuersturm mit seiner Mutter rennt und jedes Detail erinnert, jedes Bild, jeden Geruch, jedes Geräusch, jedes Wort, jedes Gefühl, jeden Stein und er auch darüber spricht und er sagt, das hat sich eingebrannt. Er sagt sogar, er ist danach nicht mehr gealtert: er ist immer dieser Junge geblieben.


Nun hört die Traumatisierung von Angehörigen ja auch nicht mit dem Ereignis einer Entführung auf. Wir kennen das von Holocaustüberlebenden und / oder Kriegsheimkehrern: Sie bringen ihr Trauma in die Familien mit.

Johann: Ich finde es nach wie vor erstaunlich, wie unterbelichtet das Schicksal der Opfer nach einem Verbrechen ist. Allein die Formulierung „nach einem Verbrechen“ ist ja falsch, denn das Verbrechen ist nicht zu Ende, wenn, sagen wir mal, der Täter gefasst ist, das Opfer freigelassen, oder irgendjemand gestorben ist. Das Verbrechen geht noch viel länger, hält noch viel länger an, ich weiß gar nicht, ob es überhaupt endlich ist. Was ich weiß, ist, dass es nicht gut ausgehen kann. Es ist schon schlecht ausgegangen, in dem Moment, in dem es passiert ist und dauert an. Und wie lange, hängt einzig und allein davon ab, wie es dem Opfer geht.


Gibt es Parallelen zwischen der Musik und der Arbeit an einem Film?

Johann: Am Film habe ich ja gar nicht großartig mitgearbeitet, ich kann also nur die Frage beantworten, ob es Parallelen gibt, zwischen dem Musik schreiben und dem Buch schreiben, und für mich ist das tatsächlich der gleiche Vorgang: aus dem Nichts etwas zu erschaffen. Das ist immer eine Kraftanstrengung, verbunden mit einer, wenn es denn klappt, wahnsinnigen Genugtuung. Ich glaube, dass es beim Film ähnlich wie bei der Musik darum geht, Entscheidungen zu treffen, mit wie wenig man eigentlich auskommt. Und das haben Claude, Adina und Hans-Christian meisterhaft geschafft: möglichst wenig, möglichst wenig Kitsch, möglichst ruhig, möglichst genau. Punkt.


Foto:
©Verleih

Info:
STAB
Regie.   Hans-Christian Schmid
Drehbuch Michael Gutmann und Hans-Christian Schmid nach dem gleichnamigen Buch von Johann Scheerer

BESETZUNG
Johann Scheerer          Claude Heinrich
Ann Kathrin Scheerer   Adina Vetter
Johann Schwenn          Justus von Dohnányi
Christian Schneider       Hans Löw
Vera                               Yorck Dippe
Nickel                             Enno Trebs
Rainer Osthoff                Fabian Hinrichs
Jan Philipp Reemtsma   Philipp Hauß