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Kategorie: Film & Fernsehen
mehr denn jeSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 1. Dezember 2022, Teil 9

Redaktion

Oslo (Weltexpresso) - Vicky Krieps in der Rolle der Hélène ist sehr bewegend. Wie haben Sie sich kennengelernt?

Vicky ist meine Nachbarin, wir wohnen zwei Gehminuten voneinander entfernt in Berlin. Wir kennen uns schon seit fast zehn Jahren. Unsere Töchter sind im gleichen Alter, die beiden sind sehr gut befreundet. Sie hatte einen Cameo-Auftritt in meinem letzten Film “Drei Tage in Quiberon”, wo sie ein Dienstmädchen spielt. Wir haben uns eines Tages in einem Café getroffen, und in einer Stunde habe ich ihr den ganzen Film vorgestellt. Am Ende weinte Vicky. Sie sagte zu mir: „Ich brauche das Drehbuch nicht zu lesen, ich mache es.“ Und dann hat sie mir Gaspard vorgestellt ... Vicky ist eine außergewöhnliche Schauspielerin. Sie hat etwas so Seltsames, Zeitloses. Sie ist hier und doch schon woanders. Sie ist sowohl sensibel als auch sehr stark. Sie hat mich einfach sehr inspiriert.


Die Kamera erlaubt es uns, sehr nah an Hélène heranzukommen, ohne in sie einzutauchen. Welche Vorstellung hatten Sie vom Bildausschnitt?

Wir haben viel mit Yves Cape, dem Kameramann, diskutiert. Für uns war es wichtig, ihr Raum zu geben und Zeit zu lassen. Sie ist eine kranke Figur, die kurzatmig ist, die Pausen machen muss, die hustet, die eine sehr leise Stimme hat, auch wenn sie schreckliche Dinge sagt. Ich brauchte eine nahe und ruhige Kamera, die ihr diesen Raum geben würde.


Was ist mit dem Rest der Inszenierung? Der Film ist ja gewissermaßen zweigeteilt, mit dem ersten Teil in der Stadt und dem zweiten mitten im Nirgendwo ...

In dem Teil, der in Bordeaux spielt, haben wir versucht, eine sehr klaustrophobische Welt zu schaffen, in der Hélène nie aus dem Haus geht. Es gibt nur Innenräume. Wir haben das alles mit Yves Cape und der Szenenbildnerin Silke Fischer gemeinsam entwickelt. Wir haben ihre Wohnung gefilmt, mit geschlossenen Fensterläden, wenn Hélène auf ihrem Bett liegt, mit dem gedämpften Geräusch der Stadt. Sie ist in einer Art Depression gefangen, denn die Lebenden verstehen sie nicht, mit Ausnahme von Mister, der das Gleiche durchmacht: Er lebt und weiß, dass er sterben wird. Die Ankunft von Hélène in Norwegen wurde dann wie eine Geburt gefilmt. Die Bilder öffnen sich. Vicky macht sich ganz klein, bis sie in der Landschaft verschwindet. Sie taucht in das Wasser ein. Sie wird eins mit der Natur.


Es gibt viele poetische, mit dem Wasser und dem Meer verknüpfte Momente. Wie kam es zu diesen Motiven?

Für mich sind die Wassermotive Visionen, Bilder aus dem Unterbewusstsein von Hélène. Sie führen sie dorthin, wo sie sein möchte: in die Natur. Es sind Bilder vom Eintauchen, vom Meer. Das Motiv des Meeres ist das einer Reise in eine andere Welt. Eine schwierige und schöne Reise. Es ist wie bei einer Geburt, wo man aus dem Fruchtwasser auftauchen muss und ab diesem Moment dem Tod entgegengeht.


Der Film hat auch eine auffällig ruhige Tongestaltung ...

Nicolas Cantin ist ein außergewöhnlicher Tontechniker. Es stimmt, es ist schließlich ein sehr ruhiger Film geworden, bei dem wir der Natur ihre eigene Sprache geben wollten. Wir haben ihr ihren Platz eingeräumt. Auch Vickys Stimme ist sehr leise, fast wie ein Hauch. Aber sie ist auch in der Lage, in einem Moment der Befreiung zu explodieren, wenn sie Mathieu sagt, dass sie dieses Leben nur noch allein leben kann. Ich nenne diese Szene „die weiße Szene“, weil darin alle Geräusche der Natur ausgelöscht sind. Alles ist „on mute“, das Wasser, der Wind in den Bäumen, ein vorbeifliegender Vogel, sogar er ist still! Das war nicht geplant, es war einfach so. Es ist, als ob die Natur verblasst, um Hélène/Vicky ihre große Szene zu geben.


Obwohl es um komplexe Gefühle geht, strahlt MEHR DENN JE eine große Fluidität und sogar gewisse Einfachheit aus. War dieser Rhythmus von Anfang an da oder entstand er erst später, beim Schnitt?

Ich begann mit dem Schnitt im Oktober 2021. Sandy Bompar, die Cutterin, kam nach einem ersten Schnittentwurf zu dem Projekt, während ich in London Episoden von „Killing Eve“ drehte. Sie hat wesentlich dazu beigetragen, dem Film eine weniger konventionellen Erzählweise zu geben. Ursprünglich war mein Film viel mehr auf die Geschichte ausgerichtet. Es war ihre Idee, mit Collagen Misters Vergangenheit zu evozieren. Es war eine wunderbare Zusammenarbeit.


Würden Sie zustimmen, dass Ihr Film keine Leidens-, sondern eine Emanzipationsgeschichte ist, ein Film über Freiheit?

Unbedingt, ja! MEHR DENN JE ist ein Film über eine Frau, die sich befreit, indem sie beschließt, diese Welt so zu verlassen, wie sie es will.


Wir haben zuvor davon gesprochen, dass die Offenbarung von Hélène zu einem großen Teil durch die Schönheit der Landschaft geschieht. Es ist unmöglich, nicht an Ingrid Bergman in „Stromboli“ zu denken ...

Diesen Film habe ich mit Vicky erst recht spät gesehen, kurz vor den Dreharbeiten. Ich gebe zu, dass ich ihn zuvor noch nie gesehen hatte, und es war mein Assistent Guillaume Bonnier, der uns riet, ihn anzuschauen. Bergman in „Stromboli“ ist unerträglich mit ihrem Fischer-Ehemann und den anderen Inselbewohnern. Er hat uns geholfen, uns eine Heldin vorzustellen, die nicht unbedingt sympathisch und auch nicht politisch korrekt ist. Ein weiterer Film, den ich sehr inspirierend fand, war Hiroshi Teshigaharas „The Sand Woman“. Ich liebe diese invasive natürliche Welt, die das Unterbewusstsein der Figur zum Ausdruck bringt.


Auch in „Drei Tage in Quiberon“ gibt es das Bild einer Frau, die allein auf dem Meer treibt ... Es ist Romy Schneider zu Beginn ihrer Krankheit. Woher kommt dieser Wunsch, Frauen in dem Moment ihres Lebens zu filmen, wenn sie zu verschwinden drohen?

Mich interessiert dieser existenzielle Moment im Leben einer Frau, wenn sie versucht, aus diesem Loch herauszukommen, in dem sie sich verloren hat. Es ist ein Moment, in dem sie nicht verstanden wird, in dem man ihr ständig sagt, was sie tun soll. Sie muss einen Weg finden, um ihre Mitte zu finden und sich von den Blicken der anderen zu befreien, um zu wissen, was sie wirklich will. Für Romy bedeutete das, mit dem Drehen aufzuhören, eine Pause zu machen und bei ihren Kindern zu sein. Für Hélène ist es die Suche nach einem Ort, an dem sie loslassen und ihre letzten Momente erleben möchte. Diese Reise ist von einem gewissen Unbehagen begleitet. Aber am Ende gibt es ein Licht, eine Befreiung.


MEHR DENN JE trägt eine sehr schwere Last: Es zeigt Gaspard Ulliel in seiner letzten Rolle.

Ja, das stimmt. Als wir die Nachricht von seinem Tod erhielten, waren wir mit Sandy in Berlin, um den Schnitt zu beenden. Wir waren während des Schnitts so nah an ihm dran, wir waren die ganze Zeit bei seinem Bild. An dem Tag, an dem er starb, hatte ich einen letzten Austausch mit ihm per Sprachnotiz. Während der Dreharbeiten hatte Gaspard mir seine Zweifel mitgeteilt. Er hatte Angst, dass er in dem Film nicht so gut war, wie er es sich gewünscht hat. Er war ein solcher Perfektionist! Er war ein anspruchsvoller Schauspieler, der an sich selbst, an der Figur, vielleicht am Film zweifelte. Ich antwortete ihm in dieser Voicemail, dass ich mit dem Film, mit ihm und mit der Chemie, die er mit Vicky aufgebaut hatte, sehr zufrieden bin.


In der letzten Einstellung des Films ist er es, der auf einem Boot verschwindet. Wir waren überwältigt, weil es wie eine Vorahnung wirkt. Dieses Ende ist so wichtig. Wir haben es sehr früh geschnitten. Ich wollte nicht, dass es melodramatisch oder zu distanziert ist. Ich wollte, dass es emotional ist, aber am Ende hell ist. Er fährt mit dem Boot weg und sie bleibt an Land.

Ich denke die ganze Zeit an Gaspard. Ich denke an sein Glück während der Dreharbeiten. Wegen der Pandemie durfte nur eine sehr kleine Gruppe des französischen Teams nach Norwegen einreisen. Wir waren wie eine Familie, die in Norwegen unter Quarantäne stand, an einem absolut magischen Ort! So verbrachten wir unsere Zeit von morgens bis abends draußen, mitten in den Fjorden. Wir gingen spazieren, fuhren Kajak, aßen, probten, tanzten. Gaspard war anders als der Gaspard, den ich in Paris kennen gelernt hatte. Er scherzte die ganze Zeit. Wir fühlten uns alle wunderbar lebendig in dieser intensiven natürlichen Umgebung. Es war

Foto:
©Verleih

Info:
Darsteller
Hélène.       Vicky Krieps
Mathieu.     Gaspard Ulliel
Mister.        Bjørn Floberg
Doktor Girlotto.  Sophie Langevin
Mutter.   Valérie Bodson

Stab
Regie.    Emily Atef
Drehbuch   Emily Atef und Lars Hubrich

Abdruck aus dem Presseheft