gainsSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 5. Januar 2023, Teil 8

Claire Vassé

Paris (Weltexpresso) – Was hat Sie angesprochen, als Sie das Drehbuch zu „Passagiere der Nacht“ gelesen haben?

Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht wirklich. Ich wähle Filme instinktiv aus, ohne tiefgreifende Analyse von Dramaturgie, Handlungssträngen, Timing und so weiter. Ich lese Drehbücher wie eine Anfängerin. Entweder bin ich süchtig oder nicht. In diesem Fall war ich gefesselt!

Rückblickend kann ich mir vorstellen, dass mich die Wärme des Drehbuchs angezogen hat: die Beziehung der Mutter zu ihren Kindern, dem Vergehen der Zeit, der Feinheit der Erzählung und der Beschreibungen. Die Schönheit und Poesie dieses Projekts kommen von seiner Leichtigkeit. Außerdem war ich begeistert davon, in die 1980er Jahre einzutauchen.


Wie war die Zusammenarbeit?

Mikhaël ist ziemlich schüchtern, und als wir uns das erste Mal trafen, hat er nicht viel gesagt. Am Set mussten wir einander kennen und verstehen lernen, aber wir mussten nicht unbedingt viel reden. Ich habe gespürt, dass wir auf der gleichen Wellenlänge sind. Das heißt nicht, dass wir genau die gleichen Empfindungen haben, aber was meine Rolle anging, haben wir uns perfekt verstanden. Wir waren miteinander verbunden.


Wie haben Sie sich die Figur der Elisabeth angeeignet?

Elisabeth stammt weder aus der arbeitenden Klasse noch aus einem privilegierten oder intellektuellen Umfeld. Ich hatte nicht allzu viele persönliche Bezüge zu der Figur, aber genau das hat mich interessiert. Ich war auch sehr neugierig auf das fünfzehnte Arrondissement mit seinen Hochhäusern, ein Teil von Paris, den ich kaum kannte.

Anfänglich war mir wichtig herauszufinden, ob Mikhaël einer der pingelig-genauen Filmemacher ist, was seine Dialoge anging, oder ob ich mir die Zeilen ein wenig aneignen konnte, was sich als der Fall herausstellte. Mikhaël schien sogar überrascht zu sein, als ich fragte. Ich glaube, er wollte vor allem, dass ich mich in meiner Rolle wohlfühle.

Ich fand es großartig, wie er sich auf bestimmte Details versteifen konnte, zum Beispiel, wenn Elisabeth das Frühstück macht und dabei eine Zigarette raucht. Diese Momente sagen viel über sein Talent aus. Er fesselt uns mit kleinen Dingen, ein paar Zeilen, die leicht an einem vorbeigehen könnten, aber dank seines Sinns für Details und Rhythmus mehr Tiefe bekommen.


Wie sind Sie in diese Zeit eingetaucht, in der Sie ja auch Teenager waren?

Erstens durch die Kostüme, mit den leichten, liebenswerten Unstimmigkeiten, die Elisabeth eigen sind, und durch ihre Frisur. Mikhaël achtete sehr auf die kleinen Details, was mir sehr gefiel. Wir haben uns zum Beispiel darauf geeinigt, ihre Haare zu verdichten, damit sie dicker sind als meine. Die Einrichtung von Elisabeths Wohnung war auch ein wichtiges Element. Als ich das Set betrat und es voller 1980er-Jahre-Objekte vorfand, die man nicht immer auf der Leinwand sieht, gab das dem Film eine Tonalität, die im Drehbuch so noch nicht zu finden war. Die ganze Crew war vom Set verzaubert, es erinnerte uns alle an unsere Kindheit und Teenagerzeit. Mikhaël hatte sich ganz auf Orange und Braun eingeschossen, ohne dabei in eine Karikatur abzugleiten. Die Szenen in der Wohnung, die im Studio gedreht wurden, waren wirklich die Zeit, in der ich meinen Charakter gesehen habe.

Was die Authentizität der Zeit angeht, so war die Geburtstagsfeier mit meinen Kolleg*innen von der Radioshow die Szene, vor der ich am meisten Angst hatte. Ich habe Mikhaël immer wieder gesagt, dass ich, abgesehen vom Stehblues wirklich keine Ahnung hatte, wie man in den Achtzigern tanzte. Mikhaël sagte, wir sollten einfach improvisieren, denn das Einzige, was zählte, war das Gefühl, dass Elisabeth glücklich war und durchdrungen von der Freude am Tanzen.


Elisabeth ist sehr zurückhaltend, verbirgt aber ihre Gefühle nicht.

Das gefällt mir wirklich an ihr: sie ist sehr aufrichtig und transparent in ihren Gefühlen, ganz und gar nicht berechnend. Auch in ihren Beziehungen zu Männern. Mir ist, als ob es recht einfach ist, die Gefühle, die sie durchlebt, zu verstehen. Ihre Schüchternheit könnte sie dazu verleiten, in Deckung zu gehen und sich zu schützen, aber so ist sie nicht. Sie hat keine Angst zu zeigen, wenn sie beunruhigt ist, und sie verbirgt ihre Tränen kaum vor ihren Kindern. Wahrscheinlich habe ich meine eigene  Schüchternheit und Schwächen als Inspiration genutzt, zu denen ich auch sehr offen stehe.


Die Szene, in der Elisabeth ihrer Tochter Judith gesteht, dass sie sehr traurig ist, seit Judith das Haus verlassen hat, ist sehr bewegend.

Der Auszug von Kindern ist etwas wirklich überwältigendes. Meine Schwester Kate sagte mir, als ihr Sohn davor war auszuziehen: „Es ist verrückt. Niemand bereitet dich darauf vor. Niemand spricht darüber!“ Sie hatte recht, und ich habe es auch erlebt und erlebe es immer noch. Es ist so ein schmerzhafter Moment. Natürlich möchte man, dass die eigenen Kinder glücklich sind, dass sie ohne Ballast ihr eigenes Leben beginnen, aber es ist wirklich der Beginn eines neuen Lebens. Ich finde
es sehr rührend, dass Elisabeth, die das Ereignis zudem allein durchstehen muss, so offen über ihre mentale Verwirrung spricht.

Foto:
©Verleih

Info:
Stab

Regie           Mikhaël Hers
Drehbuch    Mikhaël Hers, Maud Ameline, Mariette Désert

Darsteller
Élisabeth     Charlotte Gainsbourg
Mathias       Quito Rayon-Richter
Talulah        Noée Abita
Judith         Megan Northam
Hugo          Thibault Vinçon

Abdruck aus dem Presseheft