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Kategorie: Film & Fernsehen

Die Wettbewerbsfilme der 65. Berlinale vom 5. bis 15. Februar 2014, Film 14

 

Claudia Schulmerich

 

Berlin (Weltexpresso) – Ich bin kein Film, sagt dieser Film in jeder seiner138 Minuten. Denn Filme erzählen sonst Geschichten, die man verfolgen kann, hier aber wird ein Tableau auf die Filmleinwand gemalt - in sieben Kapiteln, die einer eigenen Gesetzmäßigkeit vom Schauen und in sich Eindringenlassen unterliegen und den Mut zur Surrealität einschließen. Beim Zuschauer.

 

 

Diese Kapitel, die miteinander keinen Zusammenhang haben und die Obertitel besitzen, bringen laufend neues Filmpersonal, aber dann tauchen beispielsweise die Tochter und der Sohn wieder auf und so ergeben sich dann doch auf einmal Querverbindungen zwischen den Abschnitten, die alle vom Verlust handeln, von der Trauer, auch Angst, was kommen wird. Dabei wird die Vergangenheit des Landes nur an seinen Helden zum Thema. Am Strand stehen Skulpturen, darunter ein riesiger Lenin, der seinen Arm ausstreckt, ins Nirgendwo. In der Pressekonferenz erzählt der Regisseur eine hinreißende Geschichte, bei der wir uns wundern, daß er sie nicht in diesen Film eingebaut hat, denn sie paßt. Eines Tages war der von der Filmgesellschaft geschaffene riesige Lenin weg. Er war teuer und wurde noch gebraucht – in einer Szene sitzt die Tochter auf seinem Arm, was absurd aussieht, die kleine Person und der große Lenin. Was also tun? Fragte man mit Lenin. Man suchte ihn und fand ihn in einem Gemüsegarten. Derjenige, der ihn entwendet hatte, dachte, er würde zerstört und wollte ihn retten. Allein diese Geschichte ist schon der halbe Film.

 

Es ist ein sehr poetischer Film, bei dem wir uns dauernd wundern, wie gut er uns gefällt, was stark seinem Generalthema, der russisch-ukrainischen Unternehmung zu tun hat, der Verlust von Sicherheit und Heimat, die Hoffnung auf Neues, wo die ersten kapitalistischen Boden- und Häuserspekulationen gleich die Leute aus ihren Häusern treiben, alles ein schwankender Boden, überzogen von einem grauen Firmament, in dem es flackert, sei es daß der Himmel als Werbefläche genutzt wird, sei es das Wetter, das stürmt und schneit, was dem Film den Titel gegeben hat: UNTER ELEKTRISCHEN WOLKEN. Diesen Film hat der Regisseur Alexej German seit sechs Jahren verfolgt und daß er uns so gefiel, hat eben nicht nur mit der unsagbaren Bestandsaufnahme der gegenwärtigen russischen Gesellschaft zu tun, sondern auch sehr stark mit seiner Musik.

 

Literatur (u.a. Alexander Issajewitsch Solschenizyn und Joseph Brodsky) und Kunst (Eine Zeichnung ist eine Beziehung, sagt Cezanne), über die wird in den einzelnen Kapiteln ganz schön ausführlich gesprochen, übrigens auch über Architektur, denn wir haben es hier mit verschiedenen Intellektuellen zu tun. Über Musik wird nicht gesprochen. Mit keinem Wort. Nur einmal wird eingeblendet: Strawinski, Schnittke und – wenn wir uns richtig erinnern – Metallica. Und es liegt auch nicht das über den Bildern, was man Soundtrack nennt, und was einem bei dramatischen Szenen in anderen Filmen gehörig auf die Nerven geht, weil die fehlende Spannung und Emotion des Films durch die laute dröhnende Musik ersetzt werden soll. Nein, nichts aus dem Off, die Musik wird in diesem Film selber gemacht, d.h. in jedem der Kapitel gibt es einen oder mehrere Musiker, die im Freien, unter Eis und Schnee auch, ihre Instrumente auspacken und drauflosspielen. Das ist Ausdruck einer Gesellschaft, die im Selbertun weitaus kulturaffiner ist, als unser Westen, wo hauptsächlich Musik konsumiert wird.

 

Wahrscheinlicht liegt es daran, daß uns dieser viel zu lange Film – nach vier Kapiteln hätte Schluß sein können – so gefiel, obwohl er wie gesagt, allem widerspricht, was einen Film spannend und eindrucksvoll macht. Diese Spannung spürten wir aber und beeindruckt waren wir auch. Da kein Handlungsstrang vorliegt, wir mit den Personen im Nebel und im Eis stochern, muß man also analysieren, woran das liegen kann. Schnell kommen wir auf zwei Stränge, die Unwirtlichkeit der Szenerie, die irgendwo im Niemandsland an einem Strand sein kann, mit angefangenen Bauten, mit in den Himmel ragenden Stahlträgern, mit Skupturen, alles einer richtigen Stadt zugehörig. Der andere Strang ist die Absurdität, die aus jeder der Szenen dringt, aber einen um so stärker emotional berührt, da man verstehen lernt, daß hier eine Gesellschaft an ihre Grenzen gestoßen ist, das Alte vorbei ist und das Neue noch keine Gestalt hat, mit der die Menschen, die wir kennenlernen, einverstanden wären. Wir sind mit diesen sozusagen im Niemandsland. Irgendwer hat formuliert, daß dieser Film das Psychogramm Rußlands sei, dem die Ukraine sich zu Beginn der Filmarbeiten noch stark zugehörig fühlte. Daß es also um die Seele des Landes gehe, geschändet und mitgenommen, aber als Sehnsucht noch vorhanden.

 

Wir erleben erst das Einstellen von Bauarbeiten, weil der Besitzer verstorben ist. und gehen mit dem Kirgisen, dem Fremdarbeiter, der kein Russisch spricht, an den Strand. Der hat keine Arbeit, kein Geld, kein Brot und wird noch dazu einen Mord mitansehen – und wir mit ihm- und soll vom Mörder ebenfalls ermordet werden, er kann diesen aber mit dessen eigenem Messer niederstrecken. Diese Eingangsszene hat mit den späteren Filmhandlungen keinerlei Bezug, aber ein Phänomen begleitet die Szenen. Dieser Kirgise hat Nasenbluten, was sich epidemisch im Filmverlauf ausbreitet. Man fühlt, das soll eine Metapher sein. Aber was sagt sie uns? Nur finden wir das Fehlen von Erklärungen hier überhaupt nicht schlimm. Die Bezugslosigkeit des Kirgisen, der nie wieder auftaucht, eher. Doch kommen rechtzeitig das junge Mädchen und der junge Herr ins Bild, die aus dem Ausland, wo sie studierten, einreisen, denn es ist ihr erfindungsreicher und reicher Vater, der gestorben ist.

 

Herrlich, wie deren Heim aussieht, von dem Roboter gar nicht zu sprechen, der erst nicht mehr funktioniert und dann macht, was er will. Man sieht astronomische Geräte, man sieht Bücher, man sieht Skupturen und weiß, hier geht es um welterfahrene und gebildete Bürger, die aber den Ort ihrer Kindheit nicht hochschätzen, warum der Vorschlag des Onkels, das Ganze möglichst an ein japanisches Konsortium zu verkaufen, den beiden Erben akzeptabel scheint.

 

Nein, wir erzählen nicht weiter, berichten nur, daß am Schluß die Tochter, die stärker durchblickt als der Bruder, das Haus und Grundstück nicht verkaufen wird. Und daß wir kopfschüttelnd, aber tief beeindruckt das Kino verließen und noch nicht wußten, daß wir uns auf die Pressekonferenz freuen durften, die mit den wichtigsten Leuten aus dem Film und seiner Herstellung auch auf viele Fragen potente Antworter hatte, wobei der Regisseur als das Hirn und Gemüt des Ganzen hervorstach und sagte: „Auch für die Produktion war es eine Reise. Sieben Kapitel mit sechs Helden. Uns erschien es ausreichend, als ein poetischer Versuch, das Geschehen an diesem Ort wie ein Fußballspiel einzufangen durch verschiedene Kameras im Feld. Immer geht es um das Feld, also den Ort und die Leute, aber man hat ganz unterschiedliche Eindrücke.“ Das ist eine schöne Erklärung für das, was einen im Film erst einmal wundert.

 

INFO:

 

R: Alexey German Jr.

Russische Föderation, Ukraine, Polen 2015, 138'

Russisch

D: Louis Franck, Merab Ninidze, Viktoriya Korotkova, Chulpan Khamatova, Viktor Bugakov, Karim Pakachakov, Konstantin Zeliger, Anastasiya Melnikova, Piotr Gasowski

Di

10.02.

09:00

Berlinale Palast (D, E)