Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 23. Juni 2016, Teil 4

o.V.

Gent/Belgien (Weltexpresso) - Café Belgica, der fünfte Spielfilm von Felix van Groeningen, Drehbuchautor und Regisseur aus Gent, ist eine gleichermaßen elektrisierende wie anrührende Geschichte, die verschiedene Hauptdarsteller hat. Da ist zuallererst die Bar, die dem Film seinen Namen gibt. Dann sind da
zwei Brüder, Jo und Frank. Und dann gibt es die Musik. Das Ergebnis ist ein sehr persönlicher Film.


Was hat Dich daran gereizt, diese Geschichte zu erzählen?


Der Hauptgrund für die Entstehung dieses Films sind die spannenden Charaktere, die diese Geschichte prägen. Der Film zeichnet die Porträts zweier Brüder, die sich beim Aufbau eines Geschäfts ihre Nische in der Welt erobern. Es ist ihre gemeinsame und ihre individuelle Entwicklung im Rausch des Nachtlebens, einer Welt mit Sex, Drugs & Rock ‘n’ Roll, die den Film antreibt. Der eine Bruder ist ein extrovertierter Hedonist, der andere mehr kopfbetont. Der eine der  Draufgänger, der andere der Schüchterne mit nur einem Auge. Der eine sucht ständig nach neuen Reizen, der andere nach Sicherheit. Zusammen ergänzen sie
sich zu einem großartigen Duo, doch irgendwann drohen sie sich selbst und gegenseitig zu verlieren. Bis ein Bruder zum anderen sagt „Ich sehe keine
Zukunft mit dir…“, und das finde ich unglaublich schmerzhaft.


Café Belgica erzählt das Schicksal von zig Unternehmern: Man vergrößert sich, und das bedeutet auch, dass man seine Ideale hinter sich lassen muss. Für mich erzählt diese Geschichte auch etwas über den gesellschaftlichen Wandel in den letzten 20 Jahren. Alles ist strenger geworden. Vielleicht sind einige Ideale verloren gegangen. Die Bar ist ein gesellschaftlicher Mikrokosmos. Dann gibt es natürlich auch persönliche Gründe.Tatsächlich habe ich einige Dinge im Film selbst miterlebt, mit eigenen Augen gesehen, und das war unglaublich authentisch. Dieses Gefühl, diese Stimmung – es ist schwer zu beschreiben. Aber ich hoffe, dass es in meinem Film rüberkommt.


(Das Café Belgica hat ein reales Vorbild: das Café Charlatan im historischen Zentrum von Gent. Die Studentenstadt Gent ist für ihr ausgelassenes Nachtleben bekannt. Doch diese Live-Musikkneipe, eine Institution für Partygänger jeden Alters und jeden Musikgeschmacks, ist besonders für Felix van Groeningen ein Stück Heimat. Sie wurde 1989 von seinem Vater eröffnet und im Jahre 2000 verkauft. Felix hat als Jugendlicher an der Theke ausgeholfen und hautnah die Entwicklung, die auch das Café Belgica nimmt, mitbekommen: die idealistischen Anfänge als Live-Musikkneipe, die allen offen steht, dann mit zunehmendem Erfolg der allmähliche Einfluss von Drogen und Gewalt, die unvermeidlichen Diskussionen über stärkere Kontrollen,
bis hin zu den Türstehern, die Besucher, von denen Ärger erwartet wird, rigoros abweisen. Und die stetige Versuchung für die Betreiber selbst, sich im Rausch des Nachtlebens zu verlieren. Sogar
für Jos versehrtes Auge stand einer der heutigen Besitzer des Café Charlatans Pate.)


Für mich war es ein vielschichtiger Mix aus Ekstase, dem Rausch des Nachtlebens, dem Drang nach Freiheit, ein Gefühl von Rebellion – und auch ein Hauch von Melancholie über das, was unterwegs verloren gegangen ist. Weil es keinen anderen Weg gibt. All das zusammen. Ein typisch belgisches Gefühl.

 


Auch typisch für Gent?


Ja, total. Eine Zeitlang dachte ich darüber nach, den Film nicht in Gent zu drehen. Dann aber habe ich gemerkt, dass dies keine Option war. Ich wollte den Film von Gent wegziehen, stattdessen bin ich nach Gent hineingezogen worden.

 


Ist Café Belgica autobiografisch?


Nein, aber es enthält sicherlich viele Situationen, die ich selbst durchgemacht habe. Deshalb ist es mein bisher vielleicht persönlichster Film. Jedes Szenario
war eine Art Recherche. Man taucht in das Material ab, und nach und nach steigen Antworten auf. Und das Erzählen von Geschichten über andere ist eine großartige Trick, zu vermeiden, über sich selbst zu sprechen!

 


Welche Rolle spielt die Musik im Film?


Musik spielt in meinen Filmen seit jeher eine große Rolle. Ich finde es toll, Musik im Film zu haben. Ich finde gleichzeitig, dass Musik wichtig für den Zusammenhalt der Geschichte ist. Sie sollte wirklich Teil der Geschichte sein. Die Reihenfolge der Musikstücke ist nicht zufällig. Sie ist ein integraler  Bestandteil dessen, was im Café Belgica und mit den Filmfiguren passiert. In einem Film über eine Musikbar ist die Mitwirkung der Brüder Stephen und David
Dewaele, die auch als Soulwax bekannt und als  2Many DJs zur Legende geworden sind, einfach unschätzbar. Wir sind seit langer Zeit befreundet, und sie haben bei meinem ersten Film Steve + Sky mit mir zusammengearbeitet. Sie waren von der Idee zu Café Belgica sofort hingerissen.

Stephen und Dave sind mit mir aufgewachsen und sind auch sehr oft in der Charlatan Bar aufgetreten. Sie haben die Welt bereist, sind oft in London und an anderen Orten. Dennoch ist Gent ihre „home base“. Das ist für sie wichtig. Deshalb fanden sie es auch so großartig, bei diesem Film mitzumachen. Sie sagten einzig wegen der Geschichte zu. Sie haben sowohl den Soundtrack als auch eine Menge neue Songs komponiert. Noch während ich am Drehbuch schrieb, haben wir uns mehrfach getroffen und ausgiebig über die Musik gesprochen. Anfangs dachte ich, dass die beiden hauptsächlich den Soundtrack liefern und dazu mit bekannten Songs existierender Bands arbeiten würden, denn es gab unheimlich viel Material. Aber dieser Schaffensprozess hat ihnen soviel Spaß gemacht, dass sie wirklich alles neu kreiert haben.

 

The Shitz, They Live und all die Bands, die wir in CAFÉ BELGICA live sehen, wurden also eigens für den Film erschaffen?


Ja, tatsächlich haben sie diese Bands erschaffen! Denn sie brachten all diese Musiker erst zusammen. Das gab ihnen erst den richtigen Kick. Sie erzählten
mir: „Wenn du die Erlaubnis hast, das Charlatan ins Café Belgica zu verwandeln, dann müssen wir nicht an den realen Bands kleben. Wir können sie neu erschaffen, wie du auch“. Vielleicht hatten sie existierende Bands als Vorbilder, aber sie griffen die Idee auf und arbeiteten damit, bis es ihre eigene war. Kurz, es war eine fantastische Zusammenarbeit. Letzendlich sind im ganzen Film nur wenige Stücke nicht von ihnen. Wie etwa J’aime regarder les filles, der Song, bei dem die Bar zum ersten Mal total abgeht. Und natürlich das bekannte Stück Plastic Dreams von Jeeday, ein legendärer Song, der uns in der ersten Zeit, als auf die „Piste“ ging für House Music begeisterte. Und natürlich Zombie Nation, das Erkennungslied von Buffalo (Spitzname für ein Fußballclub KAA in Gent). Das sind die einzigen Stücke, für die ich die Rechte abklären musste, aber sie sind stets in die Geschichte des Films eingebettet.  Stephen und David Dewaele taten alles dafür, dass sie perfekt zu den Szenen passten.

 

Ein Film über eine Bar bewegt sich quasi von selbst in Richtung Rock ‘n’ Roll, aber Café Belgica ist der personifizierte Rock ‘n’ Roll…

Einen Film zu machen ist wirklich ein Abenteuer. Wir wussten zwar, was wir zeigen wollten. Aber wir hatten keine Ahnung, was uns unterwegs begegnen würde. Und dann gerieten wir in die allerfantastischsten Dinge! Das finde ich so toll am Filmemachen. Jeder Film ist so individuell wie Kinder es sind. Eins ist schwieriger als das andere. Trotz des großen Erfolgs war etwa die Geburt von The Broken Circle wirklich schwierig. Anfangs waren wir total unsicher, wie die Leute den Film aufnehmen würden. Wir haben alle so hart dafür gearbeitet, so viel Herzblut hineingesteckt, und wir hatten das Gefühl, einen wirklich coolen Film hinbekommen zu haben. Doch anfangs bekamen wir kein gutes Feedback. Es dauerte seine Zeit. Was aber dann geschah, war wirklich wie ein Wunder (Anmerkung: The Broken Circle wurde ein weltweiter Erfolg, und erhielt eine Oscarnominierung für den besten Auslandsfilm.).


Aber der anfängliche Zweifel blieb eine Zeitlang hängen. Versteh’ mich nicht falsch, The Broken Circle ist ein großartiger Film und ich bin total stolz darauf. Trotzdem fragte ich mich, ob ich in diesem Film zu klassisch war, nicht genug Rock ‘n’ Roll ’reingebracht habe? Deshalb bin ich in Café Belgica zu meinen Wurzeln zurückgegangen – zum Rock ‘n’ Roll – und habe mir die Freiheit genommen, noch ein bisschen wilder, exzessiver zu sein.

 


Und so hast Du schließlich 130 Stunden Videomaterial gedreht.


Ja, das ist dreimal so viel wie normal. Es war wirklich eine verrückte Sache. Aber beim Schnitt glaubten wir fest daran, etwas wirklich Großes zu schaffen.
Wir hatten uns die Messlatte sehr hoch gehängt und haben hart gearbeitet, um sie zu erreichen. Ich sage absichtlich „wir“. Denn Dirk (Impens, der Produzent),
Stephen und David, wir sind allesamt Perfektionisten. Café Belgica sollte eigentlich im Oktober 2015 anlaufen. Aber im Mai merkten wir, dass wir viel mehr Zeit brauchten. Letztlich schlossen wir die Abmischung erst Mitte Dezember ab.

 


Es gibt im Film einige witzige Cameos von berühmten belgischen Darstellern, darunter Johan Heldenbergh, Sam Louwyck und Titus De Voogt, mit dem Du schon vorher zusammengearbeitet hast.


So etwas mache ich nicht oft. Aber in diesem Film fand ich es cool. Und es hat wirklich prima funktioniert. Einige waren nur einen einzigen Tag auf dem Set. Und es war wirklich total cool!

 


Du greifst oft auf dieselbe Mannschaft zurück: Rubens Impens als Kameramann, Nico Leunen für den Schnitt, Kurt Rigolle für die Ausstattung, Ann Lauwerys für die Kostüme, Sofie Tusschans als erste Assistentin, Johan Van den Driessche als Produktionsleiter, Diana Dreesen für das Make-Up, Jan Deca für den Soundtrack und natürlich Dirk Impens, der alle deine fünf Filme produziert hat.


Für mich ist das ein Traum. Es gibt zwar immer einen Wechsel in der Crew, doch das Fundament bleibt bestehen, jetzt schon im dritten Film hintereinander.
Der harte Kern ist sogar schon seit meinem ersten Film Steve + Sky dabei. Es ist wirklich seltsam. Ich drehte meinen Abschlussfilm, den Kurzfilm 50cc, ausschließlich mit Freunden und Leuten, die ich kannte. Bei meinem ersten Spielfilm halfen mir meine Mutter und mein Bruder Seppe, und dann kam meine Freundin dazu.


Seit jener Zeit habe ich mich sozusagen professionalisiert. Aber ich habe ein wunderbares Gefühl dabei, weil ich so viele großartige Menschen kennen gelernt habe. Schließlich hat sich so etwas wie eine neue Familie gebildet. Und das ist es ja auch, was zählt. Auch Café Belgica handelt davon. Wenn man gemeinsam an etwas arbeitet, wenn man ein gemeinsames Ziel hat, wird man zu einer Art Familie. Das ist immer ein gutes Gefühl. Darum liebe ich das Filmemachen
so sehr.

 


Nach der Buchadaption The Misfortunates und nach The Broken Circle, der Adaption eines Bühnenstücks, basiert Café Belgica, genau wie Steve + Sky und With Friends Like These, auf einem Originaldrehbuch. Der Versuch, eine neue Seite aufzuschlagen?


Ja. Zugleich aber hatten wir soviel, auf das wir zurückgreifen konnten. Ich habe meine Erinnerungen. Einige Leute waren Vorbilder für gewisse Filmcharaktere. Und dann gab es Arne Sierens, einen Theaterproduzenten aus Gent, der wie schon für With Friends Like These als Co-Drehbuchautor fungierte. Die Zusammenarbeit mit Arne war großartig und entscheidend. Er brachte wirklich viel von sich ein. Ich muss meine Drehbücher mit jemandem zusammenschreiben. Steve + Sky schrieb ich zwar alleine, aber das war mein erster Film. Alle folgenden Filme habe ich mit anderen zusammen verfasst. Ich liebe es, mit anderen zusammen zu arbeiten. Und es macht mich glücklicher.


Arne hat Café Belgica wirklich genossen. Er war von der Geschichte des „Charlatan“ total inspiriert. Wir haben sehr behutsam angefangen. Wir haben zusammen Interviews mit Leuten geführt, die das alles mitgemacht haben. Anfangs wollten wir über eine fiktive Bar schreiben, weit weg vom „Charlatan“. Aber wir fischten nun mal in diesem Teich. Dann hat es Klick gemacht, und wir gingen eine Partnerschaft ein. Café Belgica war nach With Friends Like These Arnes zweites Drehbuch, doch es wurde ein gänzlich anderer Film. Für Arne war es die Bestätigung, dass er tatsächlich etwas mit Film machen wollte.

 


War dieser Film auch der Abschluss eines Kapitels Deines eigenen Lebens?


Nicht bewusst. Natürlich hatte ich Gent vor acht Jahren verlassen. Vielleicht brauchte ich die Distanz, um Café Belgica erschaffen zu können. Vielleicht
war einfach die Zeit reif für einen Rückblick aus gesunder Distanz. Doch nur weil man persönlich etwas durchgemacht hat, das einem am Herzen liegt, heißt das noch lange nicht, dass man einen guten Film darüber drehen kann. Man muss immer eine Art Umwandlung vornehmen. Und irgendwie kam dabei alles zusammen. Eine Kombination von ganz verschiedenen Geschichten, von der ich glaubte, dass sie einen interessanten Filmergeben würde. Nach dem Erfolg von The Broken Circle wurde ich mit so vielen Dingen konfrontiert. Mit vielen Drehbüchern und Angeboten, sowohl im Ausland als auch in Belgien. Aber ich habe nie gezweifelt. Ich habe immer gewusst, dass Café Belgica mein nächster Film werden würde. Ich glaube, dass ich meinen Vorstellungen ziemlich treu bleibe.
Oder vielleicht auch stur bin. Fragen Sie Dirk (Impens, der Produzent ). Als Filmregisseur bin ich nicht besonders launenhaft. Ich begann im Sommer 2012 am Drehbuch von Café Belgica zu arbeiten, gleich nach Drehschluss von The Broken Circle. Wenn ich mich für etwas engagiere, bin ich wirklich bei der Sache.


Nach einem sehr schönen Schlussbild, das ich jetzt nicht verraten will, endet Café Belgica mit einer Reihe von Aufnahmen der Charaktere und Bands des Films. Ich wollte mit Café Belgica einen Film ohne Rückblenden machen, einen Film, der nicht mit der Zeit spielt. Das war die wesentliche Voraussetzung. In
allen meiner vorigen Filme hatte ich sehr viel mit schneiden und kleben zu tun. Das habe ich bei Café Belgica nicht gemacht. Oder, doch ja, vielleicht
ein bisschen.

Über den Regisseur

Felix van Groeningen (*1977) schloss sein Studium der Visual Arts an der Koninklijke Academie voor Schöne Kunsten (KASK) in Gent im Jahre 2000 mit
einem Master ab; seine Abschlussarbeit war der Kurzfilm 50 CC. Er arbeitete als Regisseur und Darsteller am Theater und entschied sich dann, zu seiner
ersten Liebe zurückzukehren: dem Filmemachen. Mit Produzent Dirk Impens von der belgischen Produktionsfirma Menuet hat er bisher fünf Spielfilme gedreht.
International bekannt wurde er durch seinen dritten Spielfilm The Misfortunates (De helaasheit der dingen / Die Beschissenheit der Dinge, 2009), der auf den Internationalen Filmfestspielen von Cannes 2009 für die Quinzaine des réalisateurs ausgewählt wurde. Den Durchbruch brachte seindarauffolgender Film The Broken Circle (2012), für den er eine Oscarnominierung in der Kategorie Bester Fremdsprachiger Film bekam.


FILMOGRAPHIE Regie/Drehbuch:


2016 Café Belgica
2012 The Broken Circle Breakdown
2009 The Misfortunates
2007 With Friends Like These
2004 Steve + Sky
2001 Bonjour Maman (Kurzfilm)
2000 50 CC (Kurzfilm)
1999 Truth Or Dare (Kurzfilm)

 

Info: Das Interview ist o.V. abgedruckt im gleichnamigen Filmheft