Serie: Das FILMFEST MÜNCHEN vom 23. Juni bis 2. Juli, Teil 13

Kirsten Liese

München (Weltexpresso) - Es ist vielleicht von Vorteil, nicht zu den großen bedeutenden A-Festivals zu zählen und Weltpremieren präsentieren zu müssen. Das gab dem Filmfest München in seiner 34. Ausgabe einmal mehr Gelegenheit, eine Vielzahl sehenswerter, teils preisgekrönter Produktionen zu zeigen, bevor sie bundesweit ins deutsche Kino kommen.

 

Dass etliche davon schon in Cannes, Locarno, Venedig oder beim Sundance Festival zu sehen waren, spielt keine Rolle, und dass das Festival keinen Wettbewerb ausrichtet, stört auch nicht.


Persönlich am meisten beeindruckt hat mich Vincent Garenqs aufwühlendes Drama „Bamberski- Der Fall Kalinka“ nach einer unfassbaren wahren Geschichte, die man aus heutiger Sicht kaum glauben würde, wenn sie sich nicht tatsächlich zugetragen hätte.


Sie beginnt im Sommer 1982, als André Bamberski (grandios: Daniel Auteuil) mitten im Urlaub und gerade frisch verliebt, vom Tod seiner 14-jährigen Tochter erfährt. Das junge Mädchen ist während der Ferien gestorben, die sie in Deutschland bei ihrer leiblichen Mutter und ihrem Stiefvater Dr. Krombach (ungewohnt zwielichtig: Sebastian Koch) verbrachte. Stante pede reist Bamberski zum Tatort, nach Lindau am Bodensee, und gewinnt schon bald den Eindruck, dass der Arzt Krombach seine Tochter sexuell missbraucht und ermordet hat. Daraufhin nimmt er einen entschlossenen, schwierigen, zermürbenden Kampf mit der Justiz auf, der sich endlos hinzieht, weil  die deutschen Behörden Krombach nicht an Frankreich ausliefern wollen, ihm lediglich die Approbation entziehen, und die französische Justiz kneift. So aussichtslos der Fall auch scheint, Bamberski gibt nicht auf, selbst dann nicht, als sein einziger treuer engagierter Anwalt keine Chancen mehr sieht.


Schließlich lässt Bamberski den Täter nach Frankreich verschleppen und gelangt so endlich nach 25 Jahren zum Ziel dessen, was er am Grab seiner Tochter geschworen hat: ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. 2011 wurde Krombach, heute 79, zu 15 Jahren Gefängnisstrafe in Paris verurteilt. Tatsächlich wäre der Mediziner, der, wie weitere Ermittlungen und Prozesse in Deutschland ergaben, sich über Betäubungsspritzen auch weitere Mädchen und junge Frauen sexuell gefügig machte, heute noch auf freien Füßen, hätte Bamberski sich zu diesem radikalen Schritt nicht entschlossen.


Für seine organisierte Entführung wurde Bamberski für ein Jahr auf Bewährung verurteilt, vor allem aber löste sein Fall große Diskussionen zum Thema Selbstjustiz aus. So einfühlsam, besessen und emotional ergreifend wie Auteuil ihn verkörpert und zu einer Identifikationsfigur macht, erübrigt sich die Frage, ob er richtig gehandelt hat. Einen so vorbildlichen, charakterfesten Mann und Vater wünschten sich wohl viele. Zugleich ist es ein großes Verdienst von Vincent Garenq, an diese ungeheuerlichen Vorgänge zu erinnern. Ein Arzt ein Sexualstraftäter? Das war in der Bundesrepublik vor 30 Jahren, wo die Männer in Weiß noch als Habgötter angesehen wurden, offenbar undenkbar. Aber Garenq stellt, so wie er uneingeschränkt Partei für Bamberski ergreift, nicht nur Politik und Justiz ein Armutszeugnis aus, sondern spürt auch psychologischen Vorgängen nach, die sich schwer begreifen lassen: Was geht in Frauen wie Kalinkas Mutter vor sich? Warum hat sie den Täter solange gedeckt und nicht sehen wollen, was immer mehr zur evidenten Gewissheit werden sollte? Garenq hat dafür nur eine Erklärung zu bieten: eine verzweifelte Verweigerungshaltung.


Um krankhafte Sexualität, wenn auch in einem gänzlich anderen Kontext, geht es auch in der deutschen Tragikomödie „Gleißendes Glück“ von Sven Taddicken. Martina Gedeck ist hier – mit unverkennbarem-, leider aber auch etwas eintönigen Schleieraugen-Blick, die Hausfrau Helene, die unter massiven Schlafstörungen leidet. Die Gründe dafür erfährt man nach und nach: Ihr stumpfer, jähzorniger Mann misshandelt sie massiv, zudem erscheint Helene eingeengt durch eine strenge Sexualmoral und leidet unter religiösen Wahnvorstellungen. Und so prallen zwei Welten aufeinander, als Helene eines Tages einen prominenten Psychologen aufsucht, von dem sie sich ihre Selbstbefreiung erhofft. Ulrich Tukur brilliert als dieser Eduard Gluck,  der sich bald als ein geradezu sexbesessener Porno-Fan entpuppt, manisch getrieben, sich aufzugeilen. Die fromme Helene muss das freilich, so unerwartet plötzlich sie damit konfrontiert wird, schockieren, aber angesichts ihrer desolaten Ehe hält sie den Kontakt. Denn irgendwie hat dieser Dr. Gluck auch Charme und hört ihr aufmerksam zu und ist vielleicht doch kein so hoffnungsloser Fall, als dass er sich nicht verändern- und zärtliche Gefühle entwickeln könnte.


Gewiss, dass ein berühmter Wissenschaftler sich derart stark für eine biedere Landpomeranze interessiert, ihre Nähe sucht, sich ihr mit all seinen Schwächen offenbart und offenbar keine Auswahl hat an anderen, attraktiveren Frauen, wirkt nicht ganz glaubwürdig, es sei denn, da wäre noch was anderes im Busch. Vielleicht ist er ja auch ein Schwindler oder ein Gauner mit dunklen Absichten? Zwar kann „Gleißendes Glück“ im Hinblick auf seine Abgründigkeiten nicht ganz mithalten mit Lars von Triers „Nymphoniac II“, aber eines muss man dem Regisseur zugute halten: Zwischen Thriller und Komödie gekonnt changierend, bleibt es bis zum Schluss in der Schwebe, ob die sich anbahnende Romanze zwischen den Protagonisten in einem Desaster oder in einer glücklichen Liebesbeziehung enden wird. Der Sex-Psychopath Gluck lässt sich nicht ausrechnen, er wirkt geheimnisvoll und auch ein bisschen mysteriös und bei alledem auch noch verschmitzt. Virtuos bewegt sich Tukur auf dieser breiten Skala.


Außergewöhnliche Filmkunst bescherte auch der Film „Neruda“, eine mit wunderbaren Landschaftspanoramen in Bilder gesetzte und mit Musik von Charles Ives’ stimmig untermalte Zeitreise in die politische Vergangenheit Chiles: Pablo Larraín erzählt, wie der Dichter, Senator und Kommunist Pablo Neruda 1948 in den Untergrund gehen musste, nachdem er öffentlich scharfe Kritik am amtierenden Präsidenten Gabriel González Videla geübte hatte. Im Zentrum steht seine bedrohliche Verfolgung durch einen pfiffigen Ermittler, den es instinktsicher ganz in seine Nähe treibt und der das Geschehen aus dem Off kommentiert. Das unabsehbare Finale hält dabei ebenso pointenreiche Überraschungen bereit wie einige Szenen, in denen Neruda in Transsexuellen und anderen schrägen Gestalten Unterstützer und Sympathisanten findet. Vor allem hat Regisseur Larraín ästhetisch wunderbar die Atmosphäre der damaligen Zeit in Südamerika als auch die Ästhetik des Filmemachens zu dieser Zeit eingefangen.


Mit dem italienischen Meisterwerk „Bella E Perduta“ von Pietro Marcello (ausführlich schon besprochen in meinem Bericht über die Filmfestspiele Locarno 2015) und dem amerikanischen Episodenfilm „Wiener Dog“ von Todd Solondz (demnächst im Kino) waren in München auch zwei Produktionen vertreten, die das Leid von Tieren sensibilisieren.