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Kategorie: Film & Fernsehen

Die 69. Filmfestspiele Locarno 2/2

Kirsten Liese

Locarno (Weltexpresso) - Einzig der Rumäne Radu Jude entzieht sich einer unbequemen Gegenwartsanalyse. Etwas langatmig und eintönig, aber doch atmosphärisch inspiriert von der Zauberberg-Atmosphäre eines Thomas Mann adaptiert er den autobiographischen Roman Vernarbte Herzen des rumänischen, im Alter von 29 Jahren an Knochentuberkulose verstorbenen Schriftstellers Max Blecher um dessen zehnjährige Leidenszeit in einem Sanatorium. Scarred Hearts gewann in Locarno den Spezialpreis der Jury.


Es ist Festivalleiter Carlo Chatrian gewiss hoch anzurechnen, dass er wie kein anderes renommiertes A-Festival das Autorenkino selbst in seinen sprödesten Ausprägungen protegiert. In der Qualität gilt es allerdings noch ein bisschen nachzubessern, verirrten sich doch in den Wettbewerb der 69. Ausgabe auch eine Reihe bedeutungsloser Produktionen, darunter etwa auch das kryptische jüngste Werk aus Angela Schanelecs Berliner Schule, Der traumhafte Weg, eine Montage zusammenhanglos wirkender Stimmungsbilder, über die sich geradezu bleiern die von den Figuren behauptete Müdigkeit legt.


Nicht minder zeigt sich an dem Regiepreis für das bildgewaltige portugiesische Opus El Ornitologo, dass Vieles, was unter dem Label Autorenkino  auf den Markt kommt, nicht unweigerlich den hohen Anspruch auf Filmkunst einlöst.  João Pedro Rodrigues besticht zwar optisch mit sensationellen Tieraufnahmen und Märchenbildern und zeigt Sinn für Originalität, aber das reicht nicht aus. Die seltsame, abstruse Geschichte um einen in einem abgelegenen Fluss nach einer bedrohten Art forschenden Vogelkundler, der von einer merkwürdigen Katastrophe in die nächste schliddert,  verliert sich zunehmend in kaum noch interpretierbare Dimensionen des Utopischen.


Große Filmkunst jenseits Osteuropas zeigte Locarno auf seiner Piazza Grande, allen voran Maria Schraders Künstlerporträt Vor der Morgenröte um den Schriftsteller Stefan Zweig in seinen letzten Lebensjahren im Exil, und Christian Schwochows in Weltpremiere gezeigter Film Paula, das faszinierende Porträt der expressionistischen Malerin Paula Modersohn Becker, die ihren gegen alle Widerstände ihre Vision künstlerischer Selbstverwirklichung lebte.


Mit dem französischen Drama Le ciel attendra fand überdies ein brisanter, höchst sehenswerter Beitrag zum islamistischen Terror den Weg auf die Piazza. Er zeichnet auf beängstigende Weise nach, wie junge französische Frauen über soziale Netzwerke zu Fundamentalistinnen werden und sich für den Islamischen Staat rekrutieren lassen. Zum Beispiel Mélanie, eine ganz normale 16-Jährige, die einem Jungen im Chat ihr Vertrauen schenkt, der sie mit Schmeicheleien und gesellschaftlichen Verschwörungstheorien für sich einnimmt. Der gut recherchierte, aufwühlende Film bedient zum Glück keine Klischees von schlechten Versager-Eltern oder unterprivilegierten Kindern der Unterschicht, stellt indirekt eher europäischen Bildungssystemen ein Armutszeugnis aus, die es im angestrengten Bemühen um politische Korrektheit, falsch verstandener Toleranz und Weltoffenheit versäumen, Schülerinnen über die patriarchalen, frauenfeindlichen Strukturen jenes Systems aufzuklären, dem sie in die Falle gehen.

 
In Michael Kochs Schweizer Wettbewerbsfilm Marija um Migranten in Dortmund gilt es schließlich noch einmal ein markantes Gesicht zu entdecken, ein Gesicht mit stechenden, staunenden Augen. Marija alias Margarita Breitkreiz, kommt aus der Ukraine und träumt von einem eigenen Frisiersalon. Sie zählt nicht zu den Frauen, die moralisch besser sein wollen als die Männer. An ihrem Fall untersucht Koch, wie sich die moralischen Grenzen von Menschen verändern, wenn die Umgebung härter wird, wie legale Migranten mit den Ärmsten Geschäfte machen, die auf Schwarzarbeiterjobs und eine primitive Bleibe angewiesen sind. Marija dient sich Abzockern an, nachdem sie einen Job in einem Hotel verloren hat. Aber sie tut dies keineswegs leichtfertig. Wenn sie an ihre Grenzen stößt, fährt die Kamera dicht an ihr Gesicht heran, mit geradezu unheimlich geweiteten Augen versinkt sie dann ins Schweigen bis ihr Gegenüber in die Knie geht.