Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 29. September 2016, Teil 7

Filmheft

Berlin (Weltexpresso) - Das ist schon ungewöhnlich, daß Weltexpresso so viele Meinungen und Artikel zum heute anlaufenden Film FRANTZ bringt. Das hat seinen Grund in der besonderen Erzählweise und den filmischen Mitteln, aber auch in der Darstellung der jungen Frau durch Paula Beer.

FRANTZ greift viele Ihrer bisherigen Themen auf: die Trauer wie in UNTER DEM SAND, das zweideutige Vergnügen, Geschichten zu erzählen wie IN IHREM HAUS, die Erziehung der Gefühle einer jungen Frau wie in JUNG & SCHÖN … Aber Sie erkunden auch neues Terrain.


Unbewusst habe ich sicher einige meiner Obsessionen übernommen. Aber ich habe in einer anderen Sprache, mit anderen Schauspielern und außerhalb von Frankreich gedreht. Das war alles neu für mich. Ich hoffe, dass dadurch auch meine Themen neue Kraft, eine neue Dimension gewinnen. Dieser Film stellte viele spannende Herausforderungen dar: Ich hatte noch nie einen Krieg gefilmt, Kampfszenen, eine deutsche Kleinstadt, Paris in Schwarz und Weiß, in deutscher Sprache.
Besonders wichtig war es mir, diese Geschichte vom Standpunkt der Deutschen aus zu erzählen, der Verlierer, die durch den Friedensvertrag von Versailles gedemütigt wurden. Ich wollte auch erzählen, wie in Deutschland damals der Nationalsozialismus entstand.

 


In TROPFEN AUF HEISSE STEINE, nach einem Fassbinder-Stück, war bereits Ihr Interesse an Deutschland zu spüren.


Deutschland ist das erste fremde Land, das ich als Kind kennengelernt habe, und es fasziniert mich immer noch. Ich interessiere mich nach wie vor für seine Sprache, seine Geschichte und seine Kultur. Schon lange wollte ich den brüderlichen Aspekt dieser beiden europäischen Völker beschreiben, die Freundschaft, die sie verbinden kann. Dieser Film war die ideale Gelegenheit.
Mein Deutsch reicht für eine Unterhaltung und um ein Filmteam zu leiten. Im Übrigen habe ich den Schauspielern vertraut und sie um Hilfe mit den Dialogen gebeten. Sie waren sehr kooperativ.

 


Was hat Sie dazu bewogen, FRANTZ zu drehen?


Wahrheit und Transparenz sind heutzutage groß geschrieben. Ich wollte schon lange einen Film übers Lügen drehen. Als Schüler und Verehrer von Éric Rohmer finde ich es spannend, Lügen erzählerisch und filmisch umzusetzen.
Als ich über diese Thematik nachdachte, erzählte mir ein Freund von Maurice Rostands Theaterstück, das dieser kurz nach dem Ersten Weltkrieg geschrieben hat. Bei meinen Recherchen zu dem Stück erfuhr ich, dass Ernst Lubitsch es 1931 unter dem Titel BROKEN LULLABY verfilmt hatte. Meine erste Reaktion war, den Stoff zu vergessen. Was sollte ich nach Lubitsch noch dazu beitragen?

 


Was hat Sie umgestimmt?


Als ich den Film sah, war ich beruhigt: Er ist dem Stück sehr ähnlich und behält den Blickwinkel des jungen Franzosen bei. Ich dagegen wollte die Perspektive der jungen Frau zeigen. Wie der Zuschauer weiß sie nicht, weshalb dieser Franzose das Grab ihres Verlobten besucht. Im Stück wie in Lubitschs Film erfahren wir sein Geheimnis bereits am Anfang, in einer langen Beichtszene bei einem Priester. Mich interessierte aber mehr die Lüge als das Schuldgefühl.


Lubitschs Film ist dennoch großartig, gerade im pazifistischen und idealistischen Kontext der Nachkriegszeit. Ich habe einige Szenen von Lubitsch übernommen, als ich das Stück adaptierte. Es ist sein unbekanntester Film, sein einziges Drama – und sein größter Flop. Die Regie ist wie immer sehr beeindruckend und ideenreich, aber es ist auch der Film eines amerikanischen Filmemachers deutschen Ursprungs, der nicht ahnte, dass ein zweiter Weltkrieg bevorstand. Er wollte einen optimistischen Film zur Versöhnung machen. Der Erste Weltkrieg war ein derartiges Blutbad gewesen, dass sowohl in Frankreich als auch in Deutschland sich viele Stimmen erhoben hatten, die ein pazifistisches Ideal verteidigten: „Nie wieder!“ Mein Blickwinkel – also der eines Franzosen, der keinen der beiden Kriege miterlebt hat – konnte nicht derselbe sein.

 


Sie haben einen zweiten Teil hinzugefügt, der in der ursprünglichen Geschichte nicht enthalten ist.


Im Stück wie in Lubitschs Film erfahren die Eltern nichts von der Lüge. Der Franzose wird in der Familie aufgenommen: Er nimmt den Platz des Toten ein, spielt Geige für sie, und es nimmt ein glückliches Ende.


In meinem Film bemüht sich Adrien ebenfalls, ein Teil der Familie zu werden, aber es kommt ein Punkt, wo das Schuldgefühl aufgrund seiner Lüge zu stark wird: Er verrät Anna alles. Anders als in Lubitschs Film kann Anna seine Tat erst nach einer langwierigen seelischen Verarbeitung akzeptieren. So kommt es zu dem zweiten Teil, der mit Adriens Abreise und Annas Depression beginnt.

 


Im Gegensatz zum klassischen Melodram verliebt sich Adrien nicht in Anna. Auf jeden Fall ist er nicht bereit, es sich einzugestehen.


Anna und Adrien teilen Frantz' Tod, aber können sie deshalb auch Liebesgefühle teilen? Sie glaubt es zunächst. Als sie dann aber die Wahrheit erfährt, erscheint es ihr unmöglich. Nach ihrer Genesung glaubt sie wieder daran, bis sie in Frankreich mit einer anderen Realität konfrontiert wird. Das Bezaubernde an Anna ist ihre Blindheit: Sie weiß, was Adrien getan hat, leidet jedoch vor allem unter ihrem unterdrückten Begehren. Schließlich macht sie sich auf die Suche nach ihm, will trotz allem an ihre Liebe glauben. Adrien dagegen weiß nicht, was er begehrt. Ich wollte zunächst mit den klassischen Thematiken des Melodrams wie Schuldgefühl und Vergebung spielen und dann die Diskrepanz der Gefühle in den Mittelpunkt rücken.

 


Je mehr Adrien sich auf die vermeintliche Freundschaft mit Frantz einlässt, desto mehr scheint er eine Art Begehren nach Frantz zu hegen.


Wie Anna zu Adriens Mutter sagt: „Nicht ich quäle Ihren Sohn, Madame, sondern Frantz.“ Frantz der deutsche Soldat, aber auch sein Doppelgänger und Freund oder möglicher Geliebter.

 


„Haben Sie keine Angst, uns glücklich zu machen“, sagt die Mutter zu Adrien, bevor er anfängt, Geige zu spielen.


Die Eltern wollen Adrien von ganzem Herzen bei sich aufnehmen. Geblendet durch die Illusion der deutsch-französischen Freundschaft und die Möglichkeit, dass er den Platz ihres verstorbenen Sohnes einnehmen könnte, akzeptieren sie unbewusst die Lüge. Alles beruht auf einem Missverständnis, dem Adrien nachgibt. Auf diese Weise lernt er Frantz kennen, tut der Familie und sich etwas Gutes. Eine Notlüge, die Trost bringt. Das erlebt man oft bei Trauerfällen: Man verspürt das Bedürfnis und hat Freude daran, über die verstorbene Person zu sprechen, sie zu idealisieren. Indem Adrien den Eltern diese Freude bereitet, verdrängt er vorübergehend das eigene Schuldgefühl.

 


Adrien ist eine komplexe Figur.


Adrien ist ein von Gewissensbissen geplagter, verstörter junger Mann. Verstört durch sein Begehren, sein Schuldgefühl, seine Familie. Anfangs weiß man wenig über ihn, er ist recht mysteriös. Im Laufe des Films ist Anna immer mehr von ihm enttäuscht. Das Trauma des Krieges hat ihn in eine Art Ohnmacht gestürzt. Es fehlt ihm an Kraft, er leidet an einer Neurose, die er nicht überwinden kann. Seine Obsession und seine Liebe zu Frantz werden zu einem tödlichen Gift, auf das er nicht verzichten will.

 


In gewisser Weise beginnt Annas eigentliche Trauer erst, als Adrien Deutschland verlässt: Sie legt ein gerahmtes Porträt von Frantz auf dessen Grab, wird depressiv.


Bis dahin war Anna für Frantz' Eltern stark geblieben. Dann sagt der Vater zu ihr: „Als Frantz uns verlassen hat, hast du uns geholfen weiterzuleben. Jetzt sind wir dran, dir zu helfen.“ Aber durch die Lüge und Adriens Abreise kommt der ganze Schmerz wieder hoch. Sie wird erneut verlassen und empfindet es diesmal als noch grausamer. Vielleicht auch aufgrund der größeren erotischen Spannung zwischen ihr und Adrien.

 


Für Anna geht es nicht so sehr um Trauerarbeit und Vergeben als vielmehr um die ersten echten Erfahrungen mit der Liebe.


Das Drehbuch ist wie ein Bildungsroman aufgebaut. Es entführt uns in keine Traumwelt, sondern folgt Annas Erziehung der Gefühle, ihren Enttäuschungen angesichts der Realität, der Lüge, des Verlangens, wie in einem Bildungsmärchen. Anna war für Frantz bestimmt. Es war eine romantische Jugendliebe, die vielleicht arrangiert und sicher platonisch war. Aber dieser Drang wurde brutal gestoppt. Da tritt plötzlich und wundersam ein zweiter, leidenschaftlicher Märchenprinz auf. Er ist zwar auch nicht der Richtige, aber durch ihn wird sie mit den entscheidenden Phänomenen des Lebens konfrontiert: Tod, Liebe, Hass, Anderssein.

 


Der Anfang des Films ist auf Anna konzentriert, die zwischen Frantz' Grab und ihrem Zuhause hin- und herläuft.


Ich filme gern die Wege, die meine Figuren zurücklegen. So wird ihre Entwicklung körperlich greifbar. Es hilft auch, den Film und die Protagonisten geografisch zu identifizieren. Es war wichtig, diese deutsche Kleinstadt zu zeigen, die Wege vom Haus zum Friedhof und dann zum Gasthaus. Während man den Weg einer Figur verfolgt, versetzt man sich in sie und begreift ihre Entwicklung. Zu Anfang tritt Anna ein bisschen auf der Stelle. Sie dreht sich im Kreis in der kleinen Stadt. Später tritt sie ihre große Reise nach Frankreich an, wo sie den Horizont des Scheinbaren durchbricht.

 


Wie sind Sie die historische Rekonstruktion angegangen?


Ganz anders als bei ANGEL, wo ich versucht hatte, die Traumvorstellung von der Welt dieser jungen Frau zu rekonstruieren. Bei FRANTZ ging es mir nicht um Stilisierung. Im Gegenteil, klarer Realismus war die Priorität. Die Epoche ist ideal dafür, denn wir haben zahlreiche Fotos und Filme von damals zur Verfügung. Bald merkte ich jedoch, dass ich nicht das notwendige Budget hatte für eine präzise Rekonstruktion, wie sie meinen Vorstellungen entsprach. Mein Szenenbildner Michel Barthélémy und ich haben viele interessante Motive gefunden, die aber kostspielige Bearbeitungen erfordert hätten. Eines Tages kam mir die Idee, unsere Fotos von möglichen Motiven in Schwarzweiß abzubilden. Wie durch ein Wunder wurden die Motive absolut glaubwürdig. Paradoxerweise verstärkt das Schwarzweiß den Realismus und die Authentizität, da wir diese Zeit nur in Schwarzweiß kennen.


Es war nicht einfach, die Produktion von dieser künstlerischen und wirtschaftlichen Entscheidung zu überzeugen, aber ich glaube, dass der Film letztlich dadurch sehr gewonnen hat.

 


Wie kam es zu der Idee, an bestimmten Stellen zu Farbe zu wechseln?


Erstmals in Schwarzweiß zu arbeiten, war eine spannende Herausforderung, aber zugleich schmerzlich, da ich von Natur her zu Farbe und Technicolor neige. Es fiel mir schwer, bei bestimmten Motiven und Szenen auf Farbe zu verzichten. Vor allem bei der Szene des Spaziergangs durch die Natur, die von der romantischen Malerei Caspar David Friedrichs inspiriert war. Ich habe Farbe als Regiemittel eingesetzt: in den Rückblenden, in den Szenen des Lügens und des Glücks, als würde in dieser Trauerphase plötzlich das Leben zurückkehren. Wie die Venen im Körper werden die Schwarzweiß- Einstellungen des Films von der Farbe „durchblutet“.

 


Wo in Deutschland haben Sie gedreht?


Mitten im Zentrum von Deutschland, etwa 200 km von Berlin entfernt, die Kleinstadt in Quedlinburg und Wernigerode, und den Friedhof in Görlitz an der polnischen Grenze. Diese Orte liegen in der ehemaligen DDR und sind fast intakt geblieben. Sie wurden weder zerstört noch übertrieben restauriert, im Gegensatz zu den Städten in Westdeutschland.

 

 


Wie haben Sie Paula Beer gefunden?
Beim Casting in Deutschland habe ich viele junge Schauspielerinnen getroffen. Bei Paula sah ich sofort, dass sie zugleich etwas Schelmisches und sehr Melancholisches hat. Sie war erst zwanzig Jahre alt, aber ihr Spiel zeugte von großer Reife. Sie konnte sowohl die Unschuld eines Mädchens verkörpern als auch die Kraft einer Frau. Ihr Spektrum ist sehr breit, sie ist auf Anhieb glaubwürdig und unglaublich fotogen.

 


Und wie kamen Sie auf Pierre Niney?


Seine Lebendigkeit und sein fantasievoller Charme waren mir in J'AIME REGARDER LES FILLES aufgefallen. Sehr gut fand ich ihn auch auf der Bühne der Comédie Française und in der Titelrolle von YVES SAINT-LAURENT. Pierre ist ein großartiger Charakterschauspieler, der in verschiedenen Genres spielen kann, vor allem in Komödien, die seinem natürlichen Rhythmus entsprechen, aber genauso überzeugend ist er in dramatischen Rollen. Das war wichtig, um Adrien zu spielen. Er hat auch eine Fähigkeit, die wenige männliche Schauspieler in seinem Alter haben: Er hat keine Angst, seine Weiblichkeit, seine Verletzbarkeit, seine Schwachpunkte zu zeigen, indem er seine Stimme sowie die Gestik einsetzt.

 


Wie haben Sie die deutschen Eltern ausgesucht?


Ernst Stötzner, der den Vater spielt, war mir in einem Film von Hans-Christian Schmid aufgefallen. Mir gefallen sein Gesicht und die natürliche Autorität, die er durch sein Auftreten und seine Stimme ausdrückt. Mit seinem weißen Bart verkörpert er die deutsche Ordnung, Gründlichkeit und Strenge. Als ich ihn in Schwarzweiß sah, hatte ich den Eindruck, einen Schauspieler von Dreyer oder Max von Sydow in einem Bergman-Film vor mir zu haben.


Für die Rolle der Mutter suchte ich eine Schauspielerin, die einen Kontrapunkt bildete zu der biedermännischen Steifheit des Vaters, die eine mütterliche Herzlichkeit ausstrahlte, menschlicher, südländischer. Marie Gruber hat mich beim Casting begeistert. Zunächst gefiel mir ihre Stimme, dann ihre Menschlichkeit, ihr Temperament und ihr Blick, der mich an Giulietta Masina erinnerte.

 


Und Johann von Bülow in der Rolle von Kreutz?


Er hat die undankbare Rolle des „Bösen“ im Film. Er verkörpert den deutschen, nationalistischen Kleinbürger, der sich gedemütigt fühlt und nach Revanche sehnt. Zugleich ist er in Anna verliebt und leidet unter ihrer Zurückweisung. Johann war perfekt, denn seine Darstellung ist sehr subtil. Er hat die nötige Zweideutigkeit, um beide Aspekte auszudrücken, ohne karikaturistisch zu wirken.

 


Und für die Rolle von Adriens Mutter?


Ich suchte eine sehr schöne Frau, um diese Aristokratin und einnehmend-dominate Mutter zu spielen. Wie eine Spinne hat sie ihr Netz gesponnen. Sie manipuliert ihr Umfeld, durchschaut alles und will ihren Sohn um jeden Preis für sich behalten, ihn von „der Deutschen“ wegbringen. Cyrielle Clair war ideal, um hinter natürlicher Eleganz und unverblümter Kälte den monströsen Aspekt dieser inzestuösen Mutter zu vermitteln.

 


Fanny, Adriens Verlobte, erinnert an eine damalige Frauenrechtlerin.


Fanny ist eine zweideutige Figur. Man weiß nicht ganz, wie man sie einordnen soll. Sie mag zart und freundlich wirken, weiß aber genau, was sie will: Auch sie will Adrien für sich. Sie hat Charakter, ist modern, jungenhaft gekleidet und frisiert. Ihr gegenüber fühlt sich Anna wie ein Landei, noch mehr wie eine Fremde, die „plumpe Deutsche“. Der Film ist wie ein Spiegelkabinett konstruiert: Wir spielen mit den Kontrasten zwischen Anna und Fanny, Frankreich und Deutschland, Frantz' Haus und Adriens Schloss, den patriotischen Liedern beider Länder usw.

 


Können Sie etwas zu Philippe Rombis Musik sagen?


Der Anfang des Films ist von spartanischer Strenge geprägt. Das gilt sowohl für die Regie als auch für die Musik, die nur selten und diskret eingesetzt wird, um dramatische Akzente zu setzen. Allmählich nimmt die Romantik zu, die Liebesgeschichte entwickelt sich, Anna hofft und wird enttäuscht. Die Musik begleitet ihren Weg, gelegentlich mit romantischen Motiven im Geiste von Komponisten der Zeit wie Mahler und Debussy.

 


Und der Vorname Frantz, der auch der Filmtitel ist?


Das kam ganz natürlich, wie ein Echo, das wie France klingt.
Auf Deutsch wird der Name ohne „t“ geschrieben. Das ist ein typisch französischer Fehler, der den Deutschen gefiel. Deshalb habe ich ihn nicht korrigiert. Ich stellte mir vor, dass Frantz aus Liebe zu Frankreich das „t“ hinzugefügt hatte.

 


Am Ende des Films erhält Anna zwar die Lüge aufrecht, um Frantz' Eltern zu schützen, aber sie selbst verstellt sich nicht mehr. Sie entdeckt eine ganz andere Art von Lüge für sich: die Kunst. Sie betrachtet den „Selbstmörder“ von Manet.


Es war mir wichtig, mit diesem Gemälde zu enden. Die Kunst ist auch eine Lüge, ein Mittel, Leid zu ertragen. Aber es ist eine edlere, virtuelle Lüge, die uns helfen kann zu leben.


In Rostands Stück ist von einem Bild von Courbet die Rede, das einen Jungen mit dem Kopf nach hinten zeigt. Als ich mir Courbets Bilder ansah, fand ich nur romantische Werke, die mir nicht krass genug erschienen. Bei meinen Recherchen zur Darstellung von Toten bin ich dann auf dieses unbekannte Bild von Manet gestoßen. „Der Selbstmörder“ ist unglaublich modern. Nachdem ich es in Schwarzweiß gezeigt hatte, wollte ich es in seiner Farbenpracht präsentieren, vor allem das Rot des Bluts, das das weiße Hemd des Selbstmörders befleckt hat. Plötzlich nimmt das Bild seine ganze Kraft an und erinnert uns schlagartig an das Drama, das sich abgespielt hat, an Frantz und Adrien. Und an die morbide Nachkriegszeit mit zwei Millionen Toten in Frankreich und drei Millionen in Deutschland; an die Überlebenden, die verstümmelt, erschüttert und mit Selbstmordgedanken zurückgekehrt sind.


Das Gewicht der Geschichte war mir sehr wichtig. Anna musste mit diesem Bild, das wie ein Echo wirkt, konfrontiert werden, obwohl es schon 1881 entstanden ist und eine Affekthandlung darstellt. Endlich sieht sie die Dinge klar vor sich, aber mit einer gewissen Distanz.

 


„Es gibt mir Lust zu leben“, sagt Anna, während sie das Bild ansieht.


Die Ironie daran gefällt mir: Sie steht vor dem Bild eines Selbstmörders und hat endlich den Spiegel durchschritten, trotz des Krieges, aller Dramen, aller Toten, aller Lügen. Sie ist innerlich gewachsen, hat Prüfungen bestanden, einen langen Weg zurückgelegt und große Kraft erlangt. Mit Frantz und Adrien hat sie eine verlorene Liebe und eine erträumte Liebe überwunden. Vielleicht ist sie jetzt fähig, wirklich zu lieben und den richtigen Menschen zu finden.

 

Foto: François Ozon (c) Wikipedia