Ferdinand von Schirachs Theaterstück „Terror“ jetzt auch als Fernsehfilm in der ARD

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Kann man eine Gewissensentscheidung über Leben und Tod treffen, ohne über ausreichendes Faktenwissen zu verfügen?

Und darf man juristischen Laien eine Abwägung elementarer Rechtsgüter überlassen? Der Strafrechtler und Autor Ferdinand von Schirach scheint das zumindest für erwägenswert zu halten. Und die deutschsprachigen Theater, die seit einem Jahr sein Stück „Terror“ mit Erfolg aufführen, setzen offensichtlich auf ein vermeintlich gesundes Volksempfinden auch unter den Nachdenklichen sowie auf die Bereitschaft des Publikums, weitreichende rechtliche Entscheidungen ohne Vorkenntnisse zu fällen. Die ARD hat mit ihrem Fernsehfilm dem Trend nunmehr eine Sahnehaube aufgesetzt.

Ich habe im Oktober 2015 die Aufführung des Stücks im Schauspiel Frankfurt gesehen, fast exakte zwölf Monate danach den Fernsehfilm. Die Dramaturgie überzeugte sowohl hier als auch dort, ebenso die Leistungen der Schauspieler. Das Frankfurter Publikum stimmte mit knapper Zweidrittelmehrheit für den Freispruch des angeklagten Luftwaffenpiloten, die Fernsehschauer entlasteten ihn gar zu 87 Prozent.

Während ich mich in Frankfurt nach der Vorstellung mit Freunden im Theaterrestaurant über das Stück stritt, präsentierte die ARD nach Ausstrahlung des Films und der erfolgten Abstimmung und Urteilsverkündung eine Diskussionsrunde in der Reihe „Hart aber fair“.


Deren Zusammensetzung entsprach in etwa dem Zuschauervotum: Der Jurist und ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum übernahm die Position der Minderheit; die künftige Hannoversche Regionalbischöfin Petra Bahr verkörperte das Elend eines Christentums, das sich nicht entscheiden will; Thomas Wassmann, Vorsitzender des Kampffliegerverbands der Bundeswehr, bekräftigte den Realitätsbezug von Schirachs Stück, vermochte aber die Problematik nicht zu Ende zu denken und der ehemalige Verteidigungsminister Franz-Josef Jung zeigte sich nicht dazu in der Lage, über den Tellerrand der Eindimensionalität hinaus zu blicken.

Das Stück greift eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf, nach der eine Abwägung zwischen dem Leben einer kleinen Gruppe und dem Leben einer zahlenmäßig größeren Gruppe auch angesichts einer möglichen Katastrophe nicht erlaubt ist, weil sich beide auf Artikel 1 des Grundgesetzes berufen können. Denn der erklärt die Würde des Menschen als unantastbar. Weitere erkennbare Motive sind der Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 in New York und der Flug eines verwirrten Sportflugzeugpiloten im Januar 2003 über Frankfurt am Main.

Ferdinand von Schirach konstruiert einen Fall, der möglicherweise Realität werden könnte: Ein Terrorist bemächtigt sich eines voll besetzten Verkehrsflugzeugs und zwingt die Piloten, nicht den Münchener Flughafen anzusteuern, sondern eine Fußballarena, in der sich 70.000 Zuschauer ein Länderspiel ansehen wollen. Die alarmierte Luftwaffe versucht mit zwei Kampf-Jets erfolglos eine Kontaktaufnahme. Auch die Abgabe von Warnschüssen verfehlt ihr Ziel. Sowohl die militärische Führung als auch die Verteidigungsministerin lehnen den Abschuss der Maschine mit Verweis auf die juristische Lage und insbesondere auf das erwähnte Verfassungsgerichtsurteil ab. Einer der Kampfpiloten sieht sich jedoch in der moralischen Pflicht, das entführte Flugzeug mit 160 Passagieren abzuschießen, um die 70.000 Fußballfans zu retten. Und er handelt entsprechend seinem Gewissen, was den Tod dieser 160 Menschen zur Folge hat. Nun steht er vor Gericht, angeklagt des 160-fachen Mordes, und rechtfertigt sein Handeln.

Während der Gerichtsverhandlung kommen Sachverhalte zur Sprache, welche die seinerzeitige Situation in einem komplexeren Licht erscheinen lassen. Die Witwe eines Getöteten (Ermordeten) berichtet von der SMS ihres Mannes, mit der er ihr mitteilte, dass Passagiere versuchen würden, in die Pilotenkanzel vorzudringen, um den Entführer zu überwältigen. Das Mobiltelefon sei nach wie vor von den Behörden beschlagnahmt. Obwohl zwischen dem ersten Hinweis auf die Entführung und dem Einsetzen des Sinkflugs eine halbe Stunde liegt, wird die Evakuierung der Fußballarena nicht in Betracht gezogen.


Der angeklagte Kampfpilot hat sich solche und ähnliche Fragen nicht gestellt. Sein Gewissen handelt, obwohl es über nicht ausreichendes Wissen zum gesamten Sachverhalt verfügte. Und er handelt gegen einen ausdrücklichen Befehl, nämlich den, das Passagierflugzeug nicht abzuschießen. Auch ist ihm nicht bewusst, dass ein Terrorist die verfassungsmäßige Ordnung des Landes, das er als Soldat zu verteidigen bereit war, entwertet und faktisch für ungültig erklärt.

Neben dem Piloten, dessen Entscheidung nicht sämtliche notwendigen Informationen einbezieht, handelt der Autor des Stücks, Ferdinand von Schirach, grob fahrlässig und unverantwortlich. Denn er überlässt einem Publikum, das sich mehrheitlich aus juristischen Laien zusammensetzt, die Bewertung eines verfassungsrechtlich hoch problematischen, wenn auch bislang theoretischen Falls, zu dem jedoch eine eindeutige Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorliegt. Exakt dieser Punkt ist die Hauptkritik, die Gerhart Baum in der „Hart-aber-fair“-Runde sowie zuvor in verschiedenen Stellungnahmen vorbrachte - und die im Bauchgefühl der anderen untergeht.

 

Foto: Der angeklagte und vom Publikum freigesprochene Eurofighter-Pilot Lars Koch in Person von Florian David Fitz (c)