LIEGENGEBLIEBEN. NACHGEHOLT. Film 1

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso)  – Das passiert. Immer wieder verstecken sich Filme oder Besprechungen zum Datum ihrer geplanten Veröffentlichung, hier dem 31. März 2016. Manchmal hat man auch erst später die Möglichkeit der Sichtung und des Darüberschreibens. Wie auch immer. Sowohl für Bücher, wie auch Filme werden wir dies in einer eigenen Reihe nachholen.


Die Franzosen können das. So kleine feine Filme mit intensiven Familienproblemen, die uns so unterhalten, wie beschäftigen, wie nämlich den einzelnen im Familienknatsch zu helfen sei. Wir nämlich betrachten das von außen, wo man immer gute Ratschläge geben kann. Hier aber ist das alles anders. Erstens handelt es sich um einen belgischen Film, zweitens hat ihn Salvina Dellicour gedreht, die zusätzlich ins Drehbuch so realistische wie dramaturgisch folgerichtige, sogar krimiaffine Dialoge geschrieben hat.

Drittens sind Schauspieler aufgeboten, die in das Spiel etwas Geheimnisvolles mitbringen. Das gilt in erster Linie für den 46jährigen Privatdetektiv Paul, dem der in Belgien berühmte Bouli Lanners eine gewitzte, sanft melancholische Figur gibt. Er ist der Detektiv, der in eigener Sache tätig wird, aber auch selbst überwacht wird von der Person, der er selber auflauert. Eigentlich ist das ein Verlierertyp, dieser aus dem Ausland gerade zurückgekommene Endvierziger. Aber wir nehmen von Anfang an Anteil an diesem wachen Menschen, der auch mit Jugendlichen auf gleicher Ebene spricht, sich spontan verhalten kann und einfach einen menschlichen Ton in eine Situation bringt, die von starren Haltungen in der Bezugsfamilie geprägt ist, insbesondere zwischen der Mutter und Tochter Dorothy.

Und damit ist viertens endlich von der Hauptperson die Rolle, der die Debütantin Manon Capelle eine außerordentliche Präsenz gibt. Sie ist die Fünfzehnjährige, die das Gefühl hat, in der Familie mit dem offiziellen Vater in diesem nicht ihren Erzeuger zu haben, weil ihrer kleinen Schwester die größere Aufmerksamkeit zuteil wird und die Mutter gerade ihr gegenüber leicht unlustig reagiert. Mit einem Wort, sie fühlt sich nicht geliebt und will endlich die Leerstelle Vater aufklären.

Hier setzt der Film mit Standort Brüssel ein, wo der Film mit der Tür ins Haus fällt und sehr direkt und komisch dazu Dorothy - und damit auch dem Zuschauer  -klar wird, daß hier etwas nicht stimmt. Die beiden Mädchen haben in dem schönen Haus mit bourgoisem Touch, oben auf dem Dachboden alte Sachen der Mama gefunden, die Kleine hat sich eine Perücke aufgesetzt und Dorothy ist stolz auf das elegante Kleid, das sie übergestreift hat. Doch ihr Auftritt bei der sonntäglichen Kaffeegesellschaft mit den Großeltern führt zum Ausflippen der Mutter Christine (Anne Coesens), so daß auch der unsensibelste Kerl merkt, daß diese Reaktion wie auf einen Stich in ein Wespennest wirkt. Wie wirkt es erst auf das sensible Mädchen, die sich nicht nur einbildet, daß ihre Mutter, die gerade ins Immobiliengeschäft eingestiegen ist, ihretwegen leidet.

Wie Dorothy  zwischen aufsässiger Jungaussteigerin mit pubertären Trieben und braver ordentlichen Tochter und dann auch jungem intelligenten Mädchen durch winzige Änderungen in der Gesichtsmuskulatur und ihrer Augensprache changiert, ist eindrucksvoll und rührend auch.

Parallel haben wir mitbekommen, wie Paul im Atuo mit der schußbereiten Kamera in der Hand Leute beobachtet und knipst. Wie, ist das nicht Dorothy und auch ihre Mutter? Ja, denn den größten Teil des Tages forscht er seiner Tochter nach. Aber als er einen Auftrag ausführt, wird er von Dorothy und ihrer Freundin Claire kurzer Hand als Spionierer entlarvt, was er sich lautstark verbittet, was bei Vorbeikommenden dazu führt, ihn als Pädophilen zu beschimpfen. Der Regisseurin gelingt es herrlich, den ganzen Film über solche Situationskomik aus Mißverständnissen auf die Leinwand zu bringen.

Dann wird es ernsthaft. Dorothy beauftragt Paul, ihren biologischen Vater zu eruieren. Ist es nicht das, was Paul immer erhofft hat, den Kontakt mit seiner Tochter. Doch, was dann passiert, gehört schon nicht mehr in die Kategorie Familienfilm, sondern in die des Thrillers. Denn Paul findet etwas heraus, was...ja, was hier einfach nicht erzählt werden darf, damit die Spannung bleibt.

Foto: (c) Filmverleih

Info:

REGIE:
Savina Dellicour

DREHBUCH:
Savina Dellicour
Matthieu de Braconier

DARSTELLER:
Bouli Lanners: Paul
Manon Capelle: Dorothy
Anne Coesens: Christine