Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 17. November 2016, Teil  3

N.N. 

Berlin (Weltexpresso) - Der gefeierte deutsche Schriftsteller Hans Fallada schrieb seinen Roman JEDER STIRBT FÜR SICH ALLEIN unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Es war einer der ersten Romane, der eine ganz klare Haltung gegen die Nationalsozialisten einnahm und bis heute unerreicht ist in seiner Darstellung menschlicher Unterdrückung und seinem Aufruf zum Widerstand. Seine Aussagen sind heute immer noch so gültig, wie sie es 1947 bei seiner Erstveröffentlichung waren.


Der Roman basiert auf Akten der Gestapo, die Fallada kurz nach dem Krieg von einem Freund zugespielt worden waren. Er erzählt die bemerkenswerte Geschichte von Otto und Anna Quangel, in Wahrheit hießen sie Otto und Elise Hampel, ein Arbeiterehepaar aus Berlin, das sich nach dem Verlust ihres Sohns Hans an der Front in Frankreich in den Widerstand begibt. Die beiden verfassen Postkarten mit Botschaften, in denen sie andere Deutsche dazu aufrufen, sich gegen die Herrschaft von Hitler und der NSDAP zur Wehr zu setzen. Diese Postkarten lassen sie an öffentlichen Plätzen zurück. Es gelingt ihnen, in einem Zeitraum von 18 Monaten 285 Postkarten zu schreiben und zu verteilen, bevor sie gefasst werden.


Der Roman JEDER STIRBT FÜR SICH ALLEIN gilt als eines der wichtigsten Werke der deutschen Nachkriegsliteratur. Vincent Pérez, der in der Schweiz geborene Schauspieler, der sich zunächst in seiner Heimat mit Filmen wie CYRANO DE BERGERAC und DIE BARTHOLOMÄUSNACHT einen Namen machte und später auch in den USA in Titeln wie THE CROW – DIE RACHE DER KRÄHE oder DIE KÖNIGIN DER VERDAMMTEN Erfolg hatte, bevor er sich für die Arbeit hinter der Kamera zu interessieren begann, las Falladas Buch auf Französisch im Jahr 2007. Wie viele andere vor und nach ihm empfand er die Thematik als Offenbarung. Besonders hatte es ihm die Schilderung ganz einfacher deutscher Bürger während des Zweiten Weltkriegs angetan. „Der Roman verfolgte einen spannenden Ansatz“, merkt Pérez an. „Er beschreibt den deutschen Alltag in den Vierzigerjahren.“


„Das Buch ist so einzigartig, weil es den Vorhang lüftet und beschreibt, wie das Leben in Deutschland, in Berlin damals ausgesehen hat“, erklärt Produzent Paul Trijbits. „Man erhält ein Bild, wie man es vorher noch nicht kannte, man beginnt zu verstehen, wie das Leben für normale Bürger in einem totalitären System gewesen sein muss. Es ist kein besetztes Land. Aber natürlich war es eine Art von Besatzung für Leute, die nicht mit dem Regime konform gingen.“


Für Pérez hatte Falladas Buch eine große, sehr persönliche Bedeutung. Väterlicherseits stammt Pérez’ Familie aus Spanien. Sein Großvater kämpfte während des Spanischen Bürgerkriegs für die Republik gegen Francos faschistisches Regime und wurde deshalb hingerichtet. Mütterlicherseits stammt die Familie aus Deutschland: Sie floh während des Dritten Reichs aus dem Land. „Meine Mutter wurde 1939 geboren, aber sie emigrierte mit der Familie wie viele andere auch, verbrachte fünf Jahre auf der Flucht und kehrte nach dem Krieg wieder zurück“, erzählt Pérez. „Wenn man deutsche Vorfahren hat, stellen sich so viele Fragen, auf die ich Antworten finden musste. Und dieses Buch half mir, viele fantastische Dinge zu entdecken. Die Lektüre Falladas zwang mich, mich mit meiner Familiengeschichte auseinander zu setzen.“


Im Mai 2009 traf sich Pérez beim Besuch des Festival de Cannes mit dem deutschen Produzenten Stefan Arndt (GOOD BYE, LENIN!), der in jenem Jahr die Goldene Palme für Michael Hanekes DAS WEISSE BAND über die frühen Wurzeln des Nationalsozialismus gewann. „Ich kannte Vincent als Schauspieler, wusste aber nichts über seine Karriere als Filmemacher“, erinnert sich Arndt. „Er sagte zu mir: Ich will JEDER STIRBT FÜR SICH ALLEIN verfilmen. Kennst du Hans Fallada?“


Arndt hatte das Buch gelesen, als er elf oder zwölf Jahre alt gewesen war – seine Mutter hatte es ihm ans Herz gelegt. „Ich antwortete ihm, dass es eines meiner Lieblingsbücher sei, aber ich nicht verstehen könne, warum er einen Kinderfilm machen wolle“, lacht Arndt, der den Roman fälschlicherweise als Kinderbuch abgespeichert hatte. Pérez berichtigte ihn umgehend. „Er erzählte mir die Hintergründe des Romans, über die Hampels und die Quangels. Und damit begann unsere Zusammenarbeit.“


Damals ging man noch davon aus, dass JEDER STIRBT FÜR SICH ALLEIN in deutscher Sprache mit einem deutschen Cast realisiert werden sollte. Aber obwohl er Filme wie GOOD BYE, LENIN! oder DAS WEISSE BAND, der neben der Goldenen Palme in Cannes auch noch mit den Europäischen Filmpreis als Bester Film ausgezeichnet und für zwei Oscars® nominiert wurde, produziert, und mit X Filme eine der dynamischsten deutschen Produktionsfirmen im Rücken hatte, tat sich Arndt schwer, bei deutschen Geldgebern Begeisterung auszulösen und wenn Interesse bestand, hätte man Kompromisse eingehen müssen, die Stefan Arndt nicht bereit war zu machen.


Wie es der Zufall wollte, wurde das Buch zu diesem Zeitpunkt zum ersten Mal in die englische Sprache übersetzt und avancierte zum Bestseller in den USA, Großbritannien und Israel. Auf einmal erschien es als absolut sinnvoll, den Film auf Englisch zu drehen. „Wir wollten eine universelle Geschichte erzählen“, merkt Pérez an. „Es war wichtig, den Film nicht nur für ein deutsches Publikum zu machen, sondern genauso für Frankreich, für Großbritannien, für Israel, für jeden Ort, an dem extreme Kräfte Oberhand gewinnen könnten. Es ist wichtig zu zeigen, dass jeder kämpfen kann. Jeder. Dafür braucht es Mut. Auf einmal erschien es logisch, auf Englisch zu drehen, weil wir das Projekt damit für ein Publikum auf der ganzen Welt öffneten. Es ist eine Geschichte, die jeder kennen sollte.“
Während der Berlinale 2014 schlossen sich Arndt und Uwe Schott von X Filme für JEDER STIRBT FÜR SICH ALLEIN mit Paul Trijbits und Christian Grass von FilmWave zusammen. „Schon bevor wir FilmWave ins Leben gerufen hatten, hatten Christian und ich ein Auge auf den Roman geworfen – wir fanden ihn toll“, sagt Trijbits.


Zu diesem Zeitpunkt gelang es Pacchioni und Pérez auch, das Interesse von Pathé an JEDER STIRBT FÜR SICH ALLEIN zu wecken. Das französische Unternehmen kam als Koproduzent und Verleih für alle französischsprachigen Territorien an Bord und trug mit ihrer Beteiligung entscheidend dazu bei, dass der Film tatsächlich realisiert werden konnte.


Für die Rolle der stillen, zurückhaltenden Hausfrau und Mutter Anna Quangel konnte sich Vincent Pérez von Anfang an nur Emma Thompson vorstellen. „Für mich war sie Anna“, sagt er über die Schauspielerin, die einen Oscar® als beste Darstellerin für WIEDERSEHEN IN HOWARDS END gewann und sich einen weiteren Academy Award® sichern konnte für ihre Drehbuchadaption von Jane Austens SINN UND SINNLICHKEIT.


Für die Rolle des Otto Quangel fand Pérez schließlich den bulligen irischen Schauspieler Brendan Gleeson. „Ich weiß, dass er der Figur im Buch nicht im Entferntesten ähnlich sieht, weil Fallada seinen Otto im Buch als dürren Spargel beschreibt“, gibt Pérez zu. „Aber als ich Brendan sah, spürte ich einfach etwas. Er hat als Schauspieler diese ungewöhnliche Qualität, sodass man stets mit ihm fühlt. Und genau das habe ich gebraucht. Wir haben immer von einem überraschenden Paar geträumt. Wenn man die beiden zusammen sieht, dann sieht man sofort, dass sie füreinander gemacht waren.“


Die Dreharbeiten begannen am 27. März 2015 in Berlin und dauerten siebeneinhalb Wochen. Obwohl ein paar Außenaufnahmen in der deutschen Hauptstadt gedreht wurden (mit dem Haus Bogensee als Double für das Hauptquartier der Gestapo), war es unmöglich, das Berlin der Vierzigerjahre tatsächlich dort auf den Straßen entstehen zu lassen.


„Große Teile des Berlins von damals existieren einfach nicht mehr, weil die Stadt im Krieg zerbombt wurde“, sagt Paul Trijbits.
Also wich man für die Außenaufnahmen nach Görlitz aus, die östlichste Stadt Deutschlands, wo auch schon GRAND BUDAPEST HOTEL und DIE BÜCHERDIEBIN gedreht wurden. „Es ist eine der wenigen Städte in Deutschland, wo die Architektur keinen Schaden genommen hat, man bekommt sofort ein Gespür für eine verlorene Tradition“, findet Brendan Gleeson.

Thompson erinnert sich, dass Pérez hinter seinem Monitor oftmals die Tränen herunterliefen. „An manchen Tagen war ich völlig erledigt“, gesteht er. „Speziell wenn wir Szenen mit der Gestapo und der SS gedreht haben.“ „Es ist fantastisch, einen Regisseur zu haben, der emotional so voll und ganz in der Sache aufgeht. Es war nie aufgesetzt, es gab keine Sentimentalität“, meint Gleeson. „Wenn jemand die ganze Zeit weinen muss, hat man die Befürchtung, dass man den Fokus verlieren könnte, aber er war immer ganz klar, sehr hart. Seine eigene Familiengeschichte ermöglicht es ihm, die Gefahr dieser Welt voll und ganz zu verstehen.“


„Ich habe acht Jahre mit Vincent gearbeitet. Immer hat er diese Kraft – die Kraft, andere Menschen mit auf seine kreativen Reisen zu nehmen“, berichtet Pacchioni. „JEDER STIRBT FÜR SICH ALLEIN ist nicht anders; er hat alle zusammengebracht und wir haben ohne Pause an dem gearbeitet, was der Film schließlich geworden ist: eine großartige, schöne und berührende Geschichte über Menschlichkeit und Liebe in Zeiten der Not.“


Das ist eine Ansicht, der sich alle Beteiligten an JEDER STIRBT FÜR SICH ALLEIN anschließen können. „Er ist die Seele des Films“, sagt Produzent Stefan Arndt über den Regisseur. „Es ist einfach wunderbar, einen derart erfahrenen Schauspieler inszenieren zu lassen, weil er keine Furcht kennt. Selbst die berühmtesten Regisseure haben Angst vor ihren Schauspielern. Sie drehen nur alle drei oder vier Jahre einen Film, während Schauspieler oftmals in vier bis sechs Filmprojekten pro Jahr vor der Kamera stehen. Aber Vincent kennt keine Angst. Er hat seine Geschichte und seine Vision beschützt.“


FilmWave-Produzent Paul Trijbits findet, dass der Film – wie auch das Buch – nicht einfach nur eine deutsche Geschichte erzählt. „Ich denke, man darf den Blick nicht einfach auf den Zweiten Weltkrieg einengen. Wir sollten über Widerstand reden. Der Film sagt etwas ganz Elementares aus – was auch der Grund ist, warum das Buch so viele Jahre später eine so große Wirkung außerhalb von Deutschland hat: Die Feder ist mächtiger als das Schwert. Wir zeigen, wozu einfache Leute in außergewöhnlichen Situationen in der Lage sind. Es gibt eine wunderbare Zeile im Film, wenn Otto über die Postkarten sagt: Sie sind wie Sandkörner, die wir in die Maschine füttern. Ein Korn hält die Maschine nicht an. Aber wenn man immer mehr hineintut, dann wird es mit der Zeit Auswirkungen auf die Maschine haben.“

 

Info: Aus dem Filmheft zu JEDER STIRBT FÜR SICH ALLEIN, Seite 5-7

Der Roman: Hans Fallada, Jeder stirbt für sich allein,  Aufbau Taschenbuch Verlag 2011, 9. Auflage 2015

Film: www.x-verleih.de