67. BERLINALE vom 9. bis 19. Februar 2017, WETTBEWERB, Teil 4

Claudia Schulmerich

Berlin (Weltexpresso) – Keine Angst, Sie müssen nicht den vor 21 Jahren gelaufenen ersten Teil kennen, einen Kultfilm der Neunziger von Danny Boyle, denn dieser zweite Film, ebenfalls von Boyle,  erschließt sich von alleine und wie die Zeit eine andere ist, sind auch die filmischen Mittel andere.


1996 hatte die Geschichte um die Kleinkriminellen und aus dem sozialen System freiwillig Herausgefallenen und Rauschgiftsüchtigen, die hauptsächlich in Edinburgh spielt, was sich in London fortsetzte, so geendet, daß Renton (Ewan McGregor) mit den 16 000 britischen Pfund aus dem Heroin-Deal nach Amsterdam abgehauen ist, um, wie er tönte, eine Familie zu gründen und ein Auto und eine Waschmaschine zu kaufen. Das Geld ist weg, die Frau auch, Kinder gab es nie und die technische Ausrüstung ist ihm egal. Renton kommt zurück, die Mutter ist wohl gerade verstorben, der Vater noch vorhanden und kann am Schluß des Films den Sohn in die Arme schließen. Dazwischen aber tobt der Bär.

Denn seine Kumpane von damals sind stinksauer. Am stärksten Sick Boy (Jonny Lee Miller), der Renton - seiner angesichtig – sofort erst einmal niederschlägt. Eine zynische Paraderolle für Jonny. Auch Francis Begbie (Robert Carlyle) ist tobsüchtig, aber der ist sowieso ein ganz besonderer Fall, den man im Film auskosten kann. Nur Spud (Ewen Bremner) ist nicht aggressiv. Zum einen ist das ein herzerweichender Charakter, der sich als heimlicher Dichter entpuppt und auch ansonsten geradezu gütige Züge zeigt. Erst später werden wir erfahren, weshalb er so gut auf Renton zu sprechen ist, hat dieser ihm doch als einzigem seinen Anteil von 4 000 britischen Pfund dagelassen.

Übrigens übergibt Renton, nachdem er wieder zu sich kommt und aufsteht, seinem Schläger Sick Boy kommentarlos einen Umschlag, in dem dessen Anteil, nämliche 4 000 Pfund, stecken. Auch darum ist er zurückgekehrt, um seine Schulden zu bezahlen. Und wie war das mit Begbie, an dem wir einen Narren gefressen haben, weil er gerade aus dem Gefängnis entlassen, auf dem besten Wege ist, gleich wieder eingeliefert zu werden und seinen Spezialkampf mit Viagra ausficht. Ach was, alle diese Typen sind hervorragend für ihre Rollen geeignet, das Zusammenspiel und auch das Gegeneinanderspiel klappt hervorragend.

Kaum treffen die vier mit allem Hin- und Her und Mordanschlägen aufeinander, bringt die kriminelle Energie die größten Blüten hervor: potentielle Anschlagsziele. Bei einem sind wir dabei, wenn karaokemäßig Renton und Sick Boy die Schau abziehen und dabei mit den gestohlenen Kreditkarten der Festgesellschaft das dicke Geld abräumen. Übrigens nicht unwichtig der Hinweis, geklaute Kreditkarten unmittelbar vor Mitternacht zu nutzen, einfach, weil man dann ein paar Minuten später, sich für den neuen Tag gleich noch einmal bedienen.

Doch längst wissen die Freunde Renton und Sick Boy, daß nicht die Verbrechen das große Geld bringen, sondern reale Geschäfte wie ein Bordell. Für dieses brauchen sie einen Bankkredit von 100 000 Pfund. Und sie bekommen ihn. Nur haben sie die Rechnung ohne Nikki (Anjela Nedyalkova) gemacht…

Mehr darf aus dem Zuhälter- Kleinkriminellen- und Prostituiertenmilieu jetzt nicht verraten werden. Es geht hoch her. Und wie gesagt, auch fürs Gemüt gibt’s Drogen.


Aus der Pressekonferenz:

Danny Boyle (Regisseur)
Anjela Nedyalkova (Nikki)
Ewan McGregor (Renton)
Ewen Bremner (Spud)
Jonny Lee Miller (Sick Boy)


Irvine Welsh hatte vor 25 Jahren das Buch geschrieben, das verfilmt wurde. Das Interesse am Film und einer Fortsetzung  ließ nicht nach. Daniel Boyle, der die Geschichte fortschreibt, spricht von den Besetzungsproblemen, die für ihn vor allem in der einzigen und noch dazu jungen Frau Nikki bestanden. Die muß sich gegen vier Hardcore-Schauspieler, „alles überalterte Jungs“, durchsetzen. Eine solche junge Frau zu finden, war schwer und Boyle ist glücklich, sie in Anjela Nedyalkova gefunden zu haben, was man als Zuschauer nachempfinden kann.

Spud, bzw. Ewen Bremner, betont, der Regisseur habe eine unglaubliche Energie und das setze sich ins Team fort, er gibt Kraft. Damals beim Dreh des ersten Films war alles überenergetisch, heute kann Boyle seine Energie gezielt einsetzen. Bei ihm ist ein Drehtag so gefüllt wie bei anderen drei Tage. Er ist sehr ökonomisch und hat alles im Griff. Er hat diese Riesenkraft.

Das bestätigt auch Jonny Lee Miller, den wir als amerikanischen Sherlock Holmes sehr gut kennen, es gäbe wirklich keinen, der dem Schauspieler soviel zur Verfügung stellt wie Danny Boyle. Ein Erziehungs- und Mentalitätsprojekt des Regisseurs war es, gemeinsam Filme anzusehen, um das  Gemeinschaftsgefühl der Gruppe zu stärken.

Vor 20 Jahren waren Edinburgh und London die Schauplätze. Diesmal fängt es in Amsterdam an und hört in Bulgarien auf. Ist alles europäischer? Auch Schottland ist völlig europäisch geworden. Europa hat Schottland gut getan. Vor 20 Jahren war Edinburgh eine vornehme und lahme Stadt, heute ist sie sehr lebendig und hat viele Emigranten.

Viele Dinge haben sich verändert, auch das Filmemachen. Das Visuelle hat im Gegensatz zu früher eine neue Dimension. Die Qualität ist heute besser. Aber wichtiger sind inhaltliche Fragen wie, welchen Stellenwert die Zeit in diesem Film hat.


Foto: (c) berlinale.de


Info:
Danny Boyle
Großbritannien 2017
Englisch
118 Min · Farbe
Altersfreigabe FSK 16
Mit
Ewan McGregor (Renton)
Ewen Bremner (Spud)
Jonny Lee Miller (Sick Boy)
Robert Carlyle (Francis Begbie)
Kelly Macdonald (Diane)
Shirley Henderson (Gail)
James Cosmo (Mr. Renton)
Anjela Nedyalkova (Nikki)
Stab
Regie
Danny Boyle
Buch
John Hodge, nach den Romanen „Porno“ und „Trainspotting" von Irvine Welsh
Kamera
Anthony Dod Mantle
Schnitt
Jon Harris
Musik
Rick Smith
Sound Design
Glenn Freemantle
Production Design
Mark Tildesley, Patrick Rolfe
Kostüm
Rachael Fleming, Steven Noble
Casting
Gail Stevens
Produzenten
Andrew Macdonald, Danny Boyle, Christian Colson, Bernard Bellew
Ausführende Produzenten
Irvine Welsh, Allon Reich


Danny Boyle


Geboren 1956 in England. Der preisgekrönte Regisseur und Produzent begann seine Karriere am Theater in London. Nach Arbeiten fürs Fernsehen entwickelte er mit Drehbuchautor John Hodge die Publikums- und Kritikererfolge Kleine Morde unter Freunden und Trainspotting. 2009 gewann er mit Slumdog Millionaire den Oscar® für den Besten Regisseur. In vielen Genres zu Hause, vom Horrorfilm 28 Days Later bis zum Biopic Steve Jobs, arbeitete Boyle auch weiterhin fürs Fernsehen und Theater. 2012 produzierte Boyle für ein Millionenpublikum die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in London.


Filmografie
1989 The Nightwatch; TV-Film 1996 Shallow Grave (Kleine Morde unter Freunden) · Trainspotting 1997 A Life Less Ordinary (Lebe lieber ungewöhnlich) 2000 The Beach 2002 28 Days Later 2004 Millions 2007 Sunshine 2008 Alien Love Triangle; Kurzfilm · Slumdog Millionaire 2010 127 Hours; Regie und Buch 2013 Monkeys; TV-Film · Trance 2015 Steve Jobs 2017 T2 Trainspotting