Vor der Entscheidung am Samstagabend durch die Jury des Wettbewerbs der 67. Berlinale, Teil 25

Claudia Schulmerich

Berlin (Weltexpresso) – Der  gestern zu Ende gegangene Wettbewerb der Berlinale brachte in zehn Tagen 24 Filme auf die Leinwand, von denen immerhin sechs außer Konkurrenz laufen. Da der Eröffnungstag mit DJANGO nur einen Film brachte und der Donnerstag vor dem gestrigen Freitag nur zwei Filme, hieß das für alle anderen acht Tage: je drei Filme anzuschauen.


Und in diesem Jahr waren die meisten Filme deutlich länger als der ‚normale‘ Film von 90 Minuten. Zu den Pressevorführungen im Berlinale-Palast, die jeden Morgen um 9 anfangen,  eilt man ab 8 Uhr, um einen Platz zu bekommen, möglichst einen Platz, von dem aus man dann blitzschnell den Saal wieder verlassen kann, um über den roten Teppich ins gegenüberliegende Hotel Hyatt zu stürmen, wo im ersten Stock der Presseraum liegt. Den darf man wie den Filmpalast nur mit der Akkreditierung mit Foto am Bändel betreten und für die Tausenden von Journalisten ist der Raum eigentlich zu klein. Aber nur bei berühmten Schauspielern oder Regisseuren bekommt man dann auch keinen Platz mehr, wenn man nicht schnell genug ist.

In diesen Pressekonferenzen sitzen die Darsteller und der Stab oben auf dem Podium und ein Moderator versucht, die beiden Seiten, Plenum und Bühne, durch Fragen und Antworten  zusammenzubekommen. Die Pressekonferenzen kann man übrigens auf der Webseite der Berlinale für längere Zeit verfolgen.

Wann welcher Film gezeigt wird, entscheidet die BERLINALE. Der zweite Film war der ungarische Beitrag TESTRÓL ES LÉLEKRÓL / ON BODY AND SOUL  von Ildikó Enyedi. Das war gleich ein tiefer Eindruck, wie in der Rezension geschildert. Diese wird unmittelbar nach der Vorstellung am gleichen Tag geschrieben und erscheint am Folgetag im WELTEXPRESSO. Die ganze Berlinale über wurde in Gesprächen mit Kollegen dieser Film immer wieder genannt. Nun gibt es ja nicht nur die Bären für Filme und Regie, sondern auch Darstellerpreise und klar ist, daß in der Regel nur ein Preis pro Film verliehen wird. Das wird beim ungarischen Beitrag gleich mitdiskutiert. Denn die Schauspielerin brilliert mit einem Augenspiel, das es in sich hat. Sie kann ihre im Körper eingesperrte Persönlichkeit mitsamt allen Gefühlen nur über die Augen anderen kenntlich machen. Eine tolle Leistung und wir entscheiden uns für sie, wenn nicht eine noch stärkere Leinwandpräsenz kommt.

Denn am vierten Tag kam morgens mit POKOT/SPUR ein so klarer und deshalb provozierender Film, daß ich ihn noch lieber als den ungarischen vorne sah. Übrigens führt schon wieder eine Frau Regie, eine sehr bekannte: Agnieszka Holland. Auch hier ist die Darstellerin, ebenfalls eine Agnieszka, hervorragend und man weiß, Film oder Darstellerin sollen einen Preis bekommen. Da sind wir aber bei einem Teil der Kollegen schlecht angekommen. Volle Verachtung für so viel Feminismus und Tierliebe schlägt einem geballt entgegen. Aber alleine diese Kommentare und die insgesamt schlechte Presse für diesen Film zeigt einem, daß man bei SPUR auf der richtigen Spur ist. Denn Filme sollen nicht nur ein Zeitvertreib sein, sondern mit ihren Mitteln uns etwas auch sinnlich aufzeigen, was mit schnöden Worten viel schwerer zu beschreiben ist. Und das tut dieser Film hinreißend, ohne Ideologie, aber mit viel Lust.

Wahrscheinlich geben sie Josef Hader, der den entlassenen Musikkritiker in WILDE MAUS mimt, keinen Preis, obwohl er ihn verdient. Seine schauspielerische Bandbreite ist in der  Darstellung von Stefan Zweig in VOR DER MORGENRÖTE bewundernswert gewachsen. Und die WILDE MAUS selbst? Der Film begeistert sehr lange und ab irgendwann läßt er nach.  

So ging es auch mit FÉLICITÉ, einem Film aus Afrika von Alain Gomis. Die Schauspielerin ist eine Wucht, die filmischen Mittel etwas überdeutlich, der Schluß straft den Anfang Lügen. Schwierig. Aber sicher will man Afrika nicht draußen lassen, was genauso für die asiatischen Länder gilt. Der amerikanische Kontinent dagegen kann mehr aushalten, bekommt aber sicher auch einen Bärenpreis.

Der Film UNA MUJER FANTÁSTICA des Chilenen Sebastián Lelio, der schon vor Jahren die fulminante GLORIA vorführte, wurde im Gespräch immer wieder als Bärenfavorit bezeichnet. Wie man nachlesen kann, empfand ich Fehlstellen im Film, die dazu beitrugen, daß diese Transgender-Frau größere Schwierigkeiten bekommt als es herkömmlich Menschen erleben, die ihr Geschlecht tauschen. Witzig ist THE PARTY, ein englischer Film, aber die auf den Leib geschriebenen Rollen sind dann doch recht streotyp. HELLE NÄCHTE von Thomas Arslan mochte ich nicht, dafür aber den chinesischen Film MR LONG, der wie ein Thriller beginnt und als Liebesgeschichte poetisch endet.

An TOIVON TUALLA PUOALEN/ DIE ANDERE SEITE DER HOFFNUNG von Aki Kaurismäki kommt keiner vorbei. Das ist sicher der Film, auf den sich überhaupt alle als einen preiswürdigen Film einigen können. Von tiefer Menschlichkeit geprägt zeigt er in der Frage eines asylsuchenden, aber nicht asylbekommenen Syrer in Finnland, wie Menschen sich verändern können, wenn die Karten neu gemischt sind. Irgendeinen Preis muß dieser Film bekommen, der auch in der Pressekonferenz mit großer Zustimmung befragt wurde.

Was die deutschprachigen Beiträge angeht, war HELLE NÄCHTE sehr hermetisch, RÜCKKEHR NACH MONTAUK sehr vorhersehbar und gewollt schön fotografiert und ausgestattet, BEUYS eine große angenehme Überraschung, aber einen Dokumentarfilm im Wettbewerb mit Spielfilmen ist immer noch ungewohnt. Für WILDE MAUS ist sicher zu wenig Verständnis. Und er könnte auch nur den Regiepreis bekommen, denn Beuys als besten Schauspieler auszuzeichnen, der er auch nicht war, es war nämlich im ganzen Film als Mensch einfach wahr, das würde herkömmliche Auswahlkriterien sprengen.

Was bleibt? Der portugiesische Film COLO wurde hochgelobt. Wir fanden ihn inhaltlich inkonsequent und zwar deutlich. Er ist für uns nicht preiswürdig. Der spanische Beitrag EL BAR ist rasant, aber ab irgendwann vorhersehbar. Und den Mut, den es bräuchte, den chinesischen Animationsfilm HAO JI LE auszuzeichnen, trauen wir der Berlinale Jury nicht zu. Noch nicht. Obwohl hier ein Film aus einem Land vorliegt, von dem wir alle von der Unterdrückung der Gedankenfreiheit und der freien Rede sowieso sprechen und Menschenrechte keinen Platz haben. Wie ein so ironischer, in den Überspitzungen dann wieder als tiefe Conditio humaine darstellender Film, der deutlich Mißstände in China anspricht, aber geradezu surreal uns in diese Geschichte verwickelt und dann auch noch den Klassenfeind Trump durchs Radio zu uns sprechen läßt, ein Film, der seinesgleichen sucht, wie ein solcher Film bewertet werden kann? Aber, so vermuten wir, eine solche Frage wird noch nicht 2017 positiv entschieden.

Stattdessen traue ich der Jury eher zu, ANA, MON AMOUR, den rumänischen Beitrag auszuzeichnen, dessen Regisseur Călin Peter Netzer vor Jahren, es war genau 2013, den Goldenen Bären für MUTTER & SOHN erhalten hatte. Das war ein dichtes filmisches Gewebe über die rumänische Gesellschaft und ihre Probleme, an das der diesjährige Beitrag nicht heranragt. Finde ich. Außerdem muß ein Berlinale Bärenträger nicht gleich wieder einen Preis bekommen.

Was bleibt? Die Filme, die bei den Preisen eine Rolle spielen müßten sind auf jeden Fall: der ungarische, der polnische und der finnische Beitrag. Wir vermuten, daß abhängig von der Bewertung dieser Filme die Darstellerpreise dann anderen Filmen zukommen. Sollte das nicht der Fall sein, sind wiederum die Darsteller aus dem  ungarischen, polnischen und finnischen Film preiswürdig. Später wissen wir mehr.