Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 11. Mai, Teil 7

Filmheft

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Immer wieder veröffentlichen wir auch Interviews, die in den Presseheften zur Verfügung gestellt werden, weil beispielsweise wir nicht nach Paris fahren könnten, um ein originales Interview zu machen. Gleichzeitig ist dieser Film von einem ungewöhnlichen Charme, so daß man gerne mehr über die Motive und Überlegungen des Regisseurs, der sein eigener Hauptdarsteller ist, erfahren möchte. Die Redaktion
Woher kam die Idee zu diesem Film?

Am Anfang war es lediglich ein Bild, das mir ins Auge sprang, als ich im Nachtzug von Toulouse nach Paris unterwegs war und nicht schlafen konnte. Ich sah etwas, das aussah wie eine Startrampe aus Beton, die sich über Kilometer durch die Landschaft zog. Ich wusste nicht, was es war, dachte es sei
ein Aquädukt. Ich notierte mir die Namen der Bahnhöfe, an denen wir hielten, kehrte zurück an den Ort, und das war es dann.
(Anmerkung: Es handelte sich um die Gleise einer Einschienenbahn, die 1968 als Verbindung zwischen Orléans und Paris gebaut und 1977 außer Betrieb genommen wurde.)


Wie ging es weiter?

Dieses Bild hat mich inspiriert, eine Geschichte über zwei Menschen zu schreiben, die am Rande der Gesellschaft leben, beide extrem fragil, und beide sollten auf einer geraden Linie laufen und damit jede klassische Form der Geografie außer Kraft setzen. All die anderen Elemente des Films kamen
dann zur Idee dieser beiden Charaktere auf der Flucht hinzu: Cochise und Gilou, die Suche nach einem gestohlenen Handy, die verwaiste Stadt, die Mumie etc.


Wie haben Sie das Drehbuch geschrieben?

Ich habe eineinhalb Jahre vergeblich damit verbracht. Dann bekam ich zufällig eine Unterhaltung mit und mir wurde klar, dass viele Menschen daran glauben, dass das Ende der Welt kurz bevor stehen könnte — und nicht nur ich! Plötzlich ergaben diese Einschienenbahn, das Pärchen auf der Flucht, all die Bruchstücke Sinn, und innerhalb von fünf Wochen stand das Drehbuch. Für die Entwicklung der Charaktere habe ich auf persönliche Erfahrungen zurückgegriffen, insbesondere bei Gilou, der mir sehr nah ist.


War Albert Dupontel als Cochise gesetzt?

Es gab nur einen, der dieses Duo Cochise und Gilou vollkommen machen konnte, und das war er. Ich kenne ihn gut, bewundere ihn, und wir haben schon oft zusammen gearbeitet. Er ist ein sehr rationaler Mensch, sehr fürsorglich, sehr warm und dennoch sehr zurückhaltend. Im echten Leben haben
wir die gleiche Beziehung wie Cochise und Gilou im Film. Unabhängig davon ist er ein außergewöhnlicher Schauspieler, der dieses Besondere ausstrahlt, das Cochise zu einem kaltblütigen Tier macht, zu einem echten Killer.


Ein paar Worte zu Esther und Willy bitte, dem jungen Paar auf der Flucht.

Esther und Willy bewegen sich am Rande der Gesellschaft. Ich mag fragile Charaktere, die jeden Moment hinfallen können. Da ist so etwas wie eine absolute Reinheit in ihnen, die zu dem Bild passt, das ich von den ersten Menschen habe. Das heißt, sie verkörpern das Beste im Menschen.


Warum DAS ENDE IST ERST DER ANFANG?

Es gibt ein immer wiederkehrendes Thema in all meinen Filmen: Die kaputte Familie, die wir mit allen Mitteln wieder zusammenbringen möchten. Was uns — die wir vielleicht die letzten sind — mit den ersten Menschen verbindet, ist dieses absolute Bedürfnis nach einem Leben in Gemeinschaft. Ich
mag den Gedanken, dass es da noch eine Verbindung zu ihnen gibt, das beruhigt mich. Die ersten Menschen hatten, anders als Tiere, ein Bewusstsein, und sie suchten nach dem Göttlichen. Auch wenn mein Glaube etwas angeschlagen ist, tue auch ich das noch. Wir mögen vielleicht die letzten
Menschen sein, aber so sehr unterscheiden wir uns nicht von den ersten.


Bitte auch ein paar Worte zu Max von Sydow und Michael Lonsdale.

Unabhängig vom Privileg, mit ihnen arbeiten zu dürfen, war es das Bild des Vaters, das ich mit ihren Rollen und ihnen schaffen wollte. Es bedurfte zweier Charaktere, die älter sind als Gilou, körperlich zerbrechlicher aber moralisch wesentlich stärker. Was Gilou braucht, um wieder auf den rechten
Weg zu kommen, ist ein Vater, der ihm helfen und klar machen kann, dass seine eigene Zerbrechlichkeit relativ ist.


Und dann gibt es da Jesus, gespielt von Philippe Rebbot.

Philippe ist ein Jesus wie von El Greco erdacht. Wir haben uns bei Dreharbeiten kennengelernt und wurden zu Brüdern. Ich habe zu ihm gesagt: „Du wirst Jesus sein. Du nimmst deine Brille ab, und du wirst Jesus‘ Güte in deinen Augen haben.“ Für mich ist Rebbot in diesem Film ein echter Jesus, ein
Mann mit Zweifeln, ein Mann, der weiß, dass ihn ein vorbestimmtes Schicksal erwartet, der aber nicht weiß wo. Ein Mann, der keine Angst davor hat, sein Gewehr zu benutzen. Ein Revolverheld-Jesus! Er ist mein Jesus, vielleicht nicht nach jedermanns Geschmack, aber das stört mich nicht.


Die Beauce (Anm.: eine dünn besiedelte Gegend in Frankreich) mitten im Winter bietet ein prachtvolles und wildes Setting, fast so wie das eines Westerns…

Ja, diese unendlichen Weiten sind wirklich wunderschön, sehr malerisch, wie in einigen Western. Aber es war die Hölle, mit diesem unbarmherzigen eisigen Wind. In Cinemascope sieht diese Wildnis großartig aus, aber es war hart.


Wie sind Sie die Kamera und den Look des Films angegangen?

Im heutigen Denken ist eine Art von existentiellem Pessimismus offensichtlich. Das kann ich nachvollziehen. Ich bin durch eine schwere Zeit gegangen, in der mich der Gedanke an den Tod nicht losgelassen hat. Dies musste ich durch eine Geschichte, einen Film austreiben. Das heutige Denken in Richtung „Unterhaltung und Lachen über alles“ macht mich krank, eine Komödie kam daher für mich nicht in Frage. Die Zeit war reif, einen dunkleren Film zu machen. Und es ist ok, einen dunklen Film zu machen.


Aber es ist kein Film ohne Hoffnung.

Nein, überhaupt nicht. Paradoxerweise ist es der einzige Film, den ich jemals gemacht habe, der gut endet. Selbst wenn dies das Ende der Welt ist, selbst wenn Krankheiten unser Leben verkürzen: Die Zeit, die uns bleibt, muss voll ausgekostet werden. Für mich ist dieser Film eine echte Botschaft der Hoffnung.



Über BOULI LANNERS
BOULI LANNERS, geboren 1965 im belgischen Moresnet-Chapelle, wechselte nach einem Studium der Malerei an der Académie Royale des Beaux Arts in Liège ins Schauspielfach, seit 1995 führt er auch selbst Regie. Mit seinem Kurzfilm Muno war er 2002 für den Europäischen Filmpreis nominiert, sein Spielfilmdebüt gab er 2005 mit Ultranova. Mit Kleine Riesen (2011) wurde er in die Quinzaine des Réalisateurs in Cannes eingeladen. Filme, in denen er als Schauspieler zu sehen war, sind u.a. 25 Grad im Winter (2004), Louise Hires a Contract Killer (2008), Mammuth (2010), Der Geschmack von Rost
und Knochen (2012) und Ich bin tot, macht was draus! (2015).

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