ta monta4Eine beeindruckende Montafoner Theaterwanderung, Teil 1/2

Thomas Adamczak

Schruns/Montafon (Weltexpresso) - Eine interaktive Theaterwanderung im Urlaubsparadies Montafon, bei der vom »teatro caprile« Fluchtschicksale während der NS vor- und dargestellt werden .

Ja, geht das denn bei einer Wanderung? Passt das denn?

Und wie das passt! Für Menschen, die in der Region leben, für Urlauber, die an Geschichte, Politik, Literatur und Kunst interessiert sind und natürlich für Liebhaber der Natur und des Wanderns in den Bergen.

Die Bergregionen des Rätikon bot Schmugglern seit jeher Möglichkeiten, Waren aller Art aus der Schweiz nach Österreich und umgekehrt zu bringen. Für Bergbauern eine Gelegenheit, die kargen Einkünfte aufzubessern. Da lag es nahe, dass sich Montafoner Schmuggler während der NS-Herrschaft auch als Fluchthelfer betätigten.

Im Jahr 2008 begannen die Montafoner Museen mit der Befragung von Zeitzeugen, um möglichst viele der dortigen dramatischen Vorkommnisse während der NS-Zeit zu rekonstruieren. In Kooperation mit Katharina Grabher (Konzept) und Andreas Kosek (Regie) des »teatro caprile« wurde das Theaterprojekt »Auf der Flucht« 2013 realisiert.

Premiere war am 15. September 2013. In den folgenden Jahren bis heute fanden bzw. finden an jeweils drei aufeinander folgenden Tagen im Juni und Juli oder Juli und August (2017), und zwar bei jedem Wetter, Vorstellungen statt.

ta monta2Ich besuchte mit einer Gruppe von Journalisten und etlichen anderen Besuchern die Vorstellung am 15. Juli 2017. Bei der Theaterwanderung am 14. Juli musste die Wanderung wegen widriger Witterungsverhältnisse verkürzt und auf Ausweichquartiere für die Realisierung einzelner Szenen zurückgegriffen werden.

Die Verantwortlichen des »teatro caprile« und von »Montafon Tourismus« verweisen darauf, dass der etwa 500 m hohe Auf- und anschließende Abstieg bei dieser Berg-Theaterwanderung Trittsicherheit und eine gewisse Grundkondition erfordern. Zudem wird eine bergtaugliche Ausrüstung (Wanderschuhe, Regenschutz, eventuell Wanderstöcke) empfohlen, und für unterwegs sollte ausreichend Wasser, etwas an Verpflegung sowie Sonnenschutz und, wenn möglich, ein Fernglas mitgenommen werden. Die Theaterwanderung dauert nämlich etwa 6 Stunden.

Bei der vom Verfasser dieser Zeilen besuchten Vorstellung zogen sich einige Male dunkle Wolken bedrohlich zusammen, aber es blieb bei wenigen, zu Bergkulisse und zur Thematik des Stückes bestens passenden Regentropfen, so dass die vorgesehene Route nicht verändert werden musste.

In insgesamt 15 Szenen werden an 9 unterschiedlichen Spielorten Einzelschicksale von Menschen dargestellt, die vor über siebzig Jahren unter Lebensgefahr versuchten, die Montafoner Fluchtwege zu nutzen, um der NS-Diktatur zu entfliehen.

Insgesamt gelangten 42 jüdische Menschen auf diesem Weg, über das Sarotlajoch, in die Schweiz. Im Stück dargestellt wird auch das Schicksal des Medizinstudenten Nikolaus Staudt aus Düsseldorf, der als Deserteur versuchen wollte über die Schweizer Grenze zu seiner deutschstämmigen Familie in Argentinien zu gelangen. Staudt wurde offensichtlich verraten, von seinen Fluchthelfern beraubt und kurz vor Überschreiten der Schweizer Grenze erschossen.

Das Theaterprojekt basiert auf intensiver Zeitzeugenbefragung, historischen Dokumenten und Auszügen aus literarischen Texten von Franz Werfel, Jura Soyfer, Jean Amery und anderen Schriftstellern.
ta monta3 rotatedDie Intensität dieses Theatererlebnisses lässt sich nur schwer vermitteln. Knapp dreißig Teilnehmer der Theaterwanderung sitzen oder stehen an den verschiedenen Spielorten, die auf dem historischen Fluchtweg liegen, nahe, also vor, neben, bei den fünf Schauspielern und zwei Begleitern. Der Hirte Herbert Egle geht bei der Wanderung zum jeweils nächsten Spielort am Ende und achtet darauf, dass die Besuchergruppe zusammenbleibt. Geführt wird sie von Friedrich Juen, dessen Großonkel Meinrad Juen ein erfahrender und erfolgreicher Schmuggler war, der sich aber auch als Fluchthelfer betätigte. Friedrich Juen ist bei dieser Theaterwanderung von außerordentlicher Bedeutung, weil er vor und nach den einzelnen Szenen die Aufgabe des Erzählers und Kommentators übernimmt und zwischen den einzelnen Stationen der Wanderung für Fragen aller Art zur Verfügung steht.

Mehrere Szenen des Stücks spielen im Montafoner Dialekt, wodurch sich gelegentlich Verständnisfragen ergeben, die Friedrich Juen geduldig beantwortet.

Nach Aristoteles (Poetik des Aristoteles) soll das Drama ja Furcht und Schrecken beim Zuschauer auslösen. Das ist zweifelsfrei auch die Wirkung der Theaterinszenierung »Auf der Flucht«. Mitleid mit den Flüchtlingen, vor allem den jüdischen Menschen, denen beim Verbleib im »Reich« der sichere Tod droht, aber auch mit Flüchtlingen, die andere Motiven haben.

Anders als gängige Theaterstücke bietet diese faszinierende Theaterwanderung die Gelegenheit, zwischen den einzelnen Szenen bei der Bergwanderung den eigenen Gedanken nachzuhängen, das Gespräch über das Gesehene mit anderen Teilnehmern zu suchen, die, mehr oder weniger schwer atmend, zusammen mit einem selbst zum nächsten Schauplatz aufsteigen. Oder man wendet sich bei Rückfragen an den Wanderführer Friedrich Juen.

Bekanntlich wollte Bertolt Brecht die Zuschauer mittels Verfremdungseffekten aus der bloßen Identifikation mit dem Bühnengeschehen lösen. Vergleichbares ermöglicht dieses Theatererlebnis durch die körperliche Anstrengung des Bergwanderns und wenn der Besucher, indem er in der prächtigen Bergkulisse des Rätikon herumstapft, sich fast zwangsläufig mit der historischen Realität beschäftigt und Bezüge zur gegenwärtigen Flüchtlingsproblematik herstellt, wodurch dieses Theaterereignis eine ungeahnte Aktualität gewinnt.

Am fünften Spielort (Wettertanne/»Hostig«) geht es um die NS-Rassengesetze und die damalige Schweizer Flüchtlingspolitik. Der Gestapo- Mann (gespielt von Andreas Kosek) schlägt dem Schweizer Zöllner (Roland Etlinger) vor: alle »Pässe von reichsangehörigen Juden, die zur Ausreise bestimmt sind, werden auf Seite 1 mit einem roten, drei Zentimeter hohen “J“ versehen«.

Der Schweizer stimmt sofort zu und beklagt im gleichen Atemzug, dass »die Entfernung der Flüchtlinge« schwieriger sei »als ihre Fernhaltung«. Dann dreht sich der Dialog um eine Nachricht der NZZ vom 23. November 1938, nach der Deutschland laut »Schwarzem Korps« (Organ der Reichsführung SS) »die Ermordung sämtlicher Juden plant, sofern das Ausland nicht ihren Abtransport und ihre Neuansiedlung übernimmt«.
Fortsetzung folgt

Foto: Die fünf Schauspieler auf weiter Flur  © mk Salzburg / Stella Klink

Info:
Mit freundlicher Unterstützung von https://www.montafon.at/de

Und: https://www.loewen-hotel.com/


https://www.teatro-caprile.at/

https://www.youtube.com/watch?v=aYCUJYZWEo8

http://www.erinnern.at/bundeslaender/vorarlberg/termine/teatro-caprile-auf-der-flucht.-interaktives-theater-mit-gefuehrter-tageswanderung