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Kategorie: Kulturbetrieb
kpm trockenfruchte 2Zu Gast in einer Selbsthilfegruppe für alkoholabhängige Menschen 

Hanswerner Kruse

Bad Orb (Weltexpresso) - Sektkorken knallten nicht, als neulich die „Trockenfrüchte“ in Bad Orb ihr zweijähriges Bestehen feierten. Denn die Menschen in dieser Selbsthilfegruppe versuchen, vom Alkohol wegzukommen oder als trockene Alkoholiker nicht mehr rückfällig zu werden.

Die Gruppe hat keine Leitung, aber zwei Frauen, Janet und Angelika, haben die Verantwortung für die regelmäßige Vorbereitung der Treffen übernommen. Früher tranken beide zur „Selbstmedikation unbehandelter psychischer Probleme“ viel zu viel.

Für den Besucher stellen sich die Anwesenden kurz mit Ihrer Biografie vor - doch normalerweise beginnt jedes Treffen zunächst mit einem „Blitzlicht“, in dem alle nacheinander ihre Befindlichkeit äußern. Das muss nicht nur auf die Sucht bezogen sein, sondern es wird auch berichtet, ob es seit dem letzten Treffen Ärger oder positive Erfahrungen gab. Manchmal ergeben sich daraus Themen wie heute bei Dagmar: Sie hat Stress mit einer Therapeutin und kann nicht verstehen, dass sie eventuell selbst nachgeben muss. „Möchtest Du den Konflikt lösen oder willst Du auf Deiner Wut sitzen bleiben?“, fragt sie jemand aus der Runde. Auf Vorschlag von Janet probiert sie dann im Rollenspiel, ihren Konflikt mit der Therapeutin sachlich anzusprechen. Schon in der Befindlichkeitsrunde wird viel gelacht, etwa wenn Irmgard von ihrer „Suchtverlagerung“ spricht und bekennt, „ich backe und esse zu viel Käsekuchen.“

Es gibt einen festen Kern von sieben Leuten, dazu kommen immer mal neue Besucher, um die Gruppe kennenzulernen oder daran teilzunehmen. Die Gruppe soll Rückfälle verhindern, deshalb können sich Mitglieder untereinander auch anrufen. Es gibt viel Lob, wenn sich jemand nicht schämt, einen Absturz zu thematisieren. Schließlich haben die „Trockenfrüchte“ das Ziel, sich auch in Krisenzeiten bei der Abstinenz zu unterstützen und Erfahrungen für ein drogenfreies Leben auszutauschen.

Obwohl Johann seit 5 Jahren trocken ist, meint er, „der Druck zum Trinken geht nie ganz weg.“ Aber seine schwere, alkoholbedingte Krankheit zwingt ihn zur dauerhaften Trockenheit. Wie er leben auch zwei Frauen, die suchtbedingt ganz unten waren, in einer besonderen geschützten Einrichtung für chronisch Alkoholkranke. Aber die Bandbreite der Gruppenmitglieder im Alter von 30 bis 60 Jahren ist riesig. Da ist die Hausfrau Silvia, die viel Wein und Sekt trank, „weil das alle machten“ und „aus Langeweile“ in die Abhängigkeit rutschte. Claudia hat ihren schwer kranken Lebensgefährten verloren und trank danach zu viel. Eine andere war in ihrer Arbeit als Sekretärin völlig überlastet und glich das mit Alkohol aus. Und dann gibt es die fast vorherbestimmten (aber nicht zwangsläufigen) Biografien Einiger, deren Eltern Trinker waren und die ihre kleinen Kinder schon zum Biertrinken animiert haben. Die Grenzen von der Gefährdung oder Gewohnheit zur handfesten Abhängigkeit sind fließend, das spürt man bei den Gruppenmitgliedern deutlich.

Wenn sich aus der Befindlichkeitsrunde keine Themen ergeben oder bei der letzten Sitzung keine Unternehmungen (Film gucken, Ausflug machen) geplant wurden, schlagen Janet und Angelika auch Übungen vor. Sehr beliebt ist die Aufgabe, „Ich nenne fünf Dinge, die ich gut kann“. Dabei werden Fähigkeiten oder Ressourcen der Einzelnen sichtbar, die unsere Runde ihnen bewusst machen kann“, erklärt Angelika und nennt als Beispiele kochen, gut zuhören, Humor haben oder tierlieb sein: „Solche Übungen können helfen, den Alltag zu bewältigen und das Selbstbewusstsein zu stärken.“

In der obligatorischen Schlussrunde sagten alle dem Besucher, dass ihnen die regelmäßige Teilnahme an der Gruppe gut tue. Jemand meinte, „die ‚Trockenfrüchte’ sind ein Ort des Vertrauens für mich geworden und haben einen festen Platz in meiner Wochenplanung.“


Foto: 
„Ironische Rauchzeichen der „Trockenfrüchte“ für den Besucher von der Presse“©  Hanswerner Kruse

Info:
Da abhängigkeitserkrankte Menschen immer noch stigmatisiert werden, haben wir die Namen der Gruppenmitglieder verändert und sie auf dem Foto unkenntlich gemacht




INFO

Neue Mitglieder sind bei den Treffen der „Trockenfrüchte“ willkommen: Donnerstags von 18.00 bis 19.30 Uhr im Caritas-Zentrum Bad Orb, Frankfurter Str. 2

Kontakt über Caritas 06052 - 91791-20 oder Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!




HINTERGRUND

Seit dem 1980er-Jahren haben sich Selbsthilfegruppen in Deutschland sehr stark entwickelt. Menschen mit den unterschiedlichsten somatischen oder psychischen Problemen - manchmal sogar ihre Angehörigen - kommen zusammen, um sich (auch) selbst zu helfen. Dadurch setzen sie sich aktiv mit ihren Krankheiten oder Störungen auseinander, tauschen ihre Erfahrungen aus und unterstützen bzw. motivieren sich gegenseitig. Die Zahl der organisierten Gruppen in Deutschland wird auf 70.000 bis 100.000 geschätzt (Quelle Wikipedia). Viele Gruppen werden von den Krankenkassen anerkannt und gefördert.