hwk morgendaemmerungKünstliche Intelligenz, Androiden und Endzeitstimmung im Kasseler Tanztheater

Hanswerner Kruse

Kassel (Weltexpresso) - Künstliche Intelligenz, Androiden und Endzeitstimmung - auch der Tanzfrühling im Kasseler Staatstheater widmet sich diesen aktuellen Themen.

Unter dem vagen Titel „Morgendämmerung“ beginnt der zweiteilige Tanzabend, während das Publikum hereinströmt. Zu düsterer, elektronischer Musik winden sich bereits halbnackte Tänzerinnen und Tänzer auf dem Boden der leeren Bühne. Ein Mann hängt kopfunter von der Decke und ruft: „Do I exist?“ (Lebe ich?). Zwei aufrechte Wesen mit zuckenden, roboterhaften Bewegungen begegnen einander zwischen den Liegenden und versuchen unbeholfen, sich zu verständigen und gemeinsam zu bewegen.

Andere Mitglieder des Ensembles schleppen große spiegelnde, halbtransparente Plexiglastafeln auf die Bühne, mit denen sie eigenartige individuelle Tänze oder gemeinsame serielle Polonaisen aufführen. Einmal drapieren sie die Platten zu kleinen Hütten, in die sie die Herumliegenden hineinzerren, die dort drinnen zunächst das Tanzen zu üben scheinen. Durch die spiegelnden Rahmen vervielfachen sich unaufhörlich die Aktionen der Tanzenden. Zunächst wirken Ihre Bewegungen eckig und roboterhaft - im Laufe des Stücks werden sie jedoch zunehmend geschmeidig und menschlicher. Irgendwann geraten die Wesen völlig außer sich, scheinen auszubrechen aus ihrer Programmierung oder Bestimmung, zelebrieren wilde dionysische Tänze.

Es sind spannende, oft auch sehr schöne Tanzbilder, die der Gastchoreograf Helder Seabra mit dem Kasseler Ensemble (verstärkt durch weitere Tänzerinnen, darunter die furiose kahle Performerin Stephanie Crouissilat aus New York) erarbeitet hat. In „Röntgen“, diesem ersten Stück des Abends, bleibt offen, ob Roboter außer Kontrolle geraten sind. Oder ob die Menschen sich endlich aus der Normierung befreit haben und zu ihrer Individualität finden können.

Für die zweite, titellose Choregografie des Intendanten Johannes Wieland, wurde in der Pause die Bühne in ein Trümmerfeld verwandelt. Zwischen Backsteinhaufen tobt das schmuddelig wirkende, eingestaubte Ensemble mit wilden akrobatischen Tänzen, eine Frau schleppt optimistisch einen riesigen verdorrten Baum herein. Es herrscht Chaos, doch immer wieder nehmen die Akteure Ziegel zur Hand, beginnen irgendwo irgendetwas aufzubauen. Dabei geraten sie aneinander, hindern sich beim Aufbau, zerschlagen Steine - und finden sich dann doch wieder zu gemeinsamen Trümmertänzen. Die aufbauenden und zerstörerischen Momente werden aus den fließenden Tänzen heraus kreiert. Mehrmals verwandeln die Tanzenden die Bühne in theatralische Wimmelbilder: Parallel werden Menschen mit Ziegelsteinen bedeckt, andere bauen sich Monumente auf die sie klettern, balancieren auf Klinkern, zerschmeißen das Baumaterial oder kommen rasend schnell zusammen, um lebende Bilder mit Backsteinen zu stellen.

„Du ahnst es nicht und kannst nicht wissen / Du siehst doch nur Einen Haufen zerbrochener Bilder“, hatte die Dramaturgin des Staatstheaters in ihrer Einführung den Lyriker T. S. Eliot zitiert. Man muss zeitgenössische Choreografien mit ihren Tanzbildern - die meist sowieso nichts erzählen wollen - weder rational verstehen noch krampfhaft interpretieren. Das wird auch an diesem Abend in Kassel deutlich: Man sollte ihn als Spiegel unserer Zeit und ästhetisches Erlebnis wahrnehmen, sich einfach darin treiben und berühren lassen.

Foto: 
© N. Klinger

Info:
Weitere Vorstellungen am 13. / 25. Mai, 1. / 6. / 15. / 22. Juni 2018