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Kategorie: Kulturbetrieb
hwk 2C2I3327Wohnen über dem Wasser - wo einst die Eisenbahn fuhr

Hanswerner Kruse / Hannah Wölfel

Schlitz/Osthessen (Weltexpresso) - Man muss nicht über sieben Brücken gehen, um die Verbindung von Kunst und Architektur zu erleben. Es reicht ein Ausflug nach Schlitz in Osthessen, wo Deutschlands bekanntester Metallbildhauer Dr. Ulrich Barnickel („Kreuzweg“ bei Point Alpha) eine stillgelegte Eisenbahnbrücke bebaute und damit das seltene Wohnen über einem Fluss realisierte.

„Hier neben dem Eingang werde ich noch eine große Skulptur von mir aufstellen“, sagt Barnickel beim Aufschließen des Tores, „und natürlich kommen bald noch Grünpflanzen in den Innenhof.“ Staunend betritt man die weite Freifläche vor dem roten Brückenbungalow des Künstlers, geht an einem kleinen, fast völlig verglasten Atelier vorbei zu seiner ersten fertiggestellten Wohnung. Auf die frühere Nutzung des Anwesens verweist im Hof noch ein kurzes Schienenpaar mit einer beweglichen Bahn-Lore: „Die kann man in die Sonne schieben“, erklärt Barnickel fröhlich. Der weite Blick über die Flussaue ins Grüne und das Rauschen des Bachs, wirkt wie eine Passage zwischen Natur und Wohnen.

Dieses Gefühl spürt man auch im Inneren des Flachbaus, der die Besucher in einem offenen Wohnraum mit seiner eigenartigen Stimmung umfängt: Große Fenster zum Fluss machen die langgezogene, 80 qm große Wohnung sehr hell und luftig, ihre Tiefe durch einen breiten Flur erinnert an einen ausgedehnten Bahnwaggon: So ist die ursprüngliche Funktion der Eisenbahnbrücke quasi in ihrer Bebauung aufgehoben. „Die sehr gut isolierten Wände sind teilweise mit recyceltem Holz verkleidet, um Behaglichkeit zu schaffen“, meint der Brücken(be)bauer.

Den Grundriss und die Planung des Anwesens, fast vier Meter über dem Fluss Schlitz, entwickelte der Künstler, der zum Bauherrn wurde, selbst. Die Bleche der Unterkonstruktion schweißte er eigenhändig, entwarf die Inneneinrichtung und stellte Möbel mit Metallkonstruktion selber her. Diese bereits fertiggestellte eigene Wohnung vermietet er gelegentlich an Freunde, zwei weitere Wohnungen sollen bald entstehen. „Die Individualität ist mir dabei sehr wichtig“, sagt Barnickel, „künftige Mieter oder sogar Käufer können in die Planung mit eingebunden werden.“ Erreichbar werden die weiteren Bauten durch einen Steg neben der Brücke. Die mittlere Wohnung erhält einen Balkon zur Flussaue, die dritte eine Terrasse auf dem letzten Teil der Brücke. Voneinander werden sie durch einen weiteren Innenhof getrennt.

Barnickel beschäftigte sich neben der Bildhauerei immer mit Architektur, also mit Design: „Das gehörte doch zu meiner Ausbildung in der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle“, erzählt er, „auch wenn das damals noch Gestaltung hieß. Wie im Bauhaus sollte die Verbindung von bildender und angewandter Kunst verwirklicht werden.“ Nach seiner Übersiedlung aus der DDR arbeitete er im Westen auch als Innenarchitekt und in der Denkmalpflege.

„Da könnte man doch was Schönes draus machen“, dachte sich der Künstler, als er die von der Bahn aufgegebene Brücke über den Fluss Schlitz zum ersten Mal entdeckte. „Außerdem fühlte ich mich als Metallbildhauer verantwortlich für das Objekt!“ Er kaufte sie von der Stadt Schlitz, bekam sogar schnell die ungewöhnliche Baugenehmigung für sein Projekt „Wohnen über dem Wasser“, doch es dauerte noch etliche Jahre, bis er es verwirklichen konnte. In Weimar erwarb er schon zu Studienzeiten einen Bauernhof und hatte damals begonnen, ihn als Atelier und Werkstatt auszubauen. Nach der Wende restaurierte und renovierte er das Objekt weiter, bis es nun Zeit wurde, sich endlich der Brücke zu widmen. Bereits jetzt wirkt sie wie eine gigantische Skulptur von ihm.


BRÜCKENHÄUSER

Über dem Wasser zu wohnen ist selten in der westlichen Welt: In Erfurt ist die - im frühen Mittelalter gebaute - Krämerbrücke die längste durchgehend mit Häusern bebaute Brücke Europas. Auch in Venedig, Florenz, England und Frankreich gibt es bekannte Brückenhäuser. Doch neuere riesige Wohnprojekte über dem Wasser scheiterten in Limburg oder Hamburg an der Finanzierung. So wird der kleine Neubau Barnickels über die Schlitz wohl weiterhin ziemlich einzigartig in Deutschland bleiben.


Was man wissen sollte

Die vor über 100 Jahren erbaute Eisenbrücke hat eine Gesamtlänge von 90 Metern mit 5 Meter Breite. 60 Meter Bahndamm als Zufahrt gehören ebenfalls dazu. Die Straße verläuft etwa 10 Meter parallel zur Brücke, die Fenster des Hauses sind zur Straße kleiner als zum Fluss und dreifach verglast. Der erste Bungalow ist natürlich vollständig mit Wasser-, Abwasser- und Stromversorgung erschlossen. Geheizt wird mit einem 5 KW Holzofen sowie Unterputz-Eco Infarot Wärmeplatten und einer Fußbodenheizung im Bad. Die Räume sind etwa 3,80 Meter hoch.

Insgesamt ruht das Brückenprojekt über der Schlitz schwebend auf zwei Brückenpfeilern. „Das ist also ein Baugrundstück in der Luft“, meint Barnickel spöttisch, „was die Grundsteuer auf die zwei Brückenpfeiler und die Fläche des alten Bahndamms beschränkt: Sicher auch ein Präzedenzfall...“


Fotos:
© Koni Merz/Steinau
außer Künstler vor dem Tor © Hanswerner Kruse