Niedersächsische Landeskunde / TEIL 1

Klaus Jürgen Schmidt

Norddeutschland (Weltexpresso) – "'Schritt fahren!'" – Das geht gar nicht," sagt Oberstleutnant Reinhard Egge, und fotografiert das altertümliche Verkehrszeichen an dem schönen Sandstein-Torbogen, der aus der Weser-Renaissance stammt und im Zentrum des Weilers Drakenburg die Einfahrt zum alten Gutshof ziert. "Kommt aus der Zeit als Pferdekutschen von Benzinkutschen abgelöst wurden." Und ich erfahre von dem Militärexperten, dass Pferdefuhrwerke zum letzten Mal während des Zweiten Weltkriegs eine entscheidende logistische Rolle gespielt haben.



Allein für den Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 standen den "bespannten Truppen der Wehrmacht" bei ihrem Aufmarsch im Osten über 700.000 Pferde zur Verfügung, insgesamt hatte die Deutsche Wehrmacht 2,8 Millionen Pferde im Einsatz. Und der kriegerische Einsatz von Pferden prägte in dieser norddeutschen Region schon früher das bäuerliche Leben.

1996 war der Pferdezuchtverein Winsen 75 Jahre alt geworden. Mir fiel ein Festvortrag in die Hände, den ein gewisser Martin Teske aus diesem Anlass gehalten hatte. Er gibt Auskunft darüber, welche Rolle niedersächsische Pferdezüchte bei Kriegsvorbereitungen spielten. Für seinen Vortrag hatte Treske folgendes herausgefunden:
">Ein Pferd, geeignet für die Truppe, Kürassiere und Artilleriestangenpferde, auch mittlerer Karossier mit guten, regelmäßigen und schaffenden Gängen sowohl in der Trab-Bewegung als auch im Galopp. Ein gutes Temperament, guter Magen. Blut muss mit Masse in richtiger Verbindung stehen. Die zu vorstehenden Zwecken weniger geeigneten Pferde müssen in der Landwirtschaft zu verwenden sein und eine Furche von 30 Zentimetern ziehen können. Das Pferd muss bei gefälligen Formen, gutem Hals- und Schweifansatz eine schräge Schulter und gutgestellte Beine mit ausdrucksvollen Gelenken und Sehnen, dabei gute Hufe mit gut entwickelten gesunden Strahlen haben. In der Schritt- und Trab-Bewegung müssen die gleichseitigen Füße auf Linie gehen. Pferde mit breiten Hüften sind nicht beliebt, weil solche Pferde schwer zu ernähren sind.<
So umschreibt das Hannoversche Stutbuch von 1888 das Zuchtziel. ... Das Deutsche Reich, nach dem Sieg über Napoleon 1871 neu gegründet, ist gerade 17 Jahre alt, und eine Krise bahnt sich an im Dreikaiserjahr: Bismarcks Stuhl wackelt, sein Bündnissystem gerät nach seiner Entlassung ins Wanken, die Spannungen in Europa verschärfen sich. Das Reich rüstet auf, und es beginnt die Aufrüstung dort, wo sie einerseits am wenigsten ins Auge sticht und andrerseits den größten zeitlichen Vorlauf braucht – in der Pferdezucht. Kanonen sind schnell geschmiedet, doch die Pferde, die das neue und immer größer werdende Kriegsgerät manövrieren sollen, sind so schnell nicht aus dem Boden zu stampfen. ..."

Und Berthold Seewald, Leitender Welt-Redakteur für Geschichte verwies 2016 in seiner Untersuchung zur Kriegsbedeutung von Pferden auf Erfahrungen der Wehrmacht im Russland-Feldzug – ich zitiere:
"Selbst motorisierte und Panzerdivisionen, die normalerweise immerhin 1500 Pferde im Bestand hatten, griffen nun in großem Stil auf russische Tiere zurück. Ein Generalstabsoffizier schrieb: „Soweit die Truppe beweglich war, war sie es mit wenigen Zugmaschinen, in der Hauptsache aber dank des an den russischen Winter gewöhnten, äußerst anspruchslosen Panjepferdes, das mit wenig Pflege und Futter, meist im Freien stehend, zum Helfer der Truppe wurde. Ausgerechnet Tiere, die in großer Zahl auf dem Vormarsch erbeutet worden waren, erwiesen sich "als die unbedingt zuverlässigen Helfer in allem". Und sie boten noch einen weiteren Vorteil: Sie waren in so großer Zahl vorhanden, dass es regelmäßig gelang, "vor größeren Operationen die Pferdefehlstellen der Truppe rechtzeitig aufzufüllen", schreibt Wilhelm Zieger.
Allerdings verwies er auch auf die Hypotheken, die der massenhafte Einsatz der Vierbeiner aufwarf. Landwirtschaft und Transportgewerbe in Deutschland wurden durch die regelmäßigen Aushebungen geschädigt. Und "die relativ starke Pferdezahl entzog der Truppe nicht nur eine große Zahl von Kämpfern, sie belastete außerdem stark den Nachschub auf dem Verpflegungsgebiet (für einen Soldaten je Tag etwa 1,5 Kilogramm, für ein Pferd – bei Nachschub der vollen Ration – etwa zehn Kilogramm)." Der erhebliche Aufwand, den die Futterversorgung mit sich brachte, war im Ersten Weltkrieg auch ein Grund für die Reduktion der Kavallerietruppen gewesen.

Trotz derartiger Probleme erwies sich im Zweiten Weltkrieg auf deutscher Seite das Pferd dem Kraftfahrzeug als überlegen. Das Oberkommando des Heeres hatte errechnet, dass die Lebenserwartung eines Einhufers vier Jahre betrug. Ein Kraftfahrzeug musste dagegen bereits in der Mitte des Krieges im Schnitt nach einem Jahr wegen Totalausfalls ersetzt werden. Wenn man Anfang 1945 sogar davon ausging, dass ein Lastkraftwagen ganze sieben Wochen lief, bis er völlig ausfiel, "dann war die Haltung des Pferdes doch wesentlich rationeller", heißt es in einer einschlägigen Studie.
In seinem Buch "Das letzte Jahrhundert der Pferde" zitiert der Kulturwissenschaftler Ulrich Raulff den Historiker Reinhart Koselleck. Der hatte im Zweiten Weltkrieg in der bespannten Artillerie mitgemacht: "Der Russlandfeldzug", so Kosellecks Fazit, "gehört nach seinen strukturellen Bedingungen noch in das Pferdezeitalter. Mit Pferden ließ er sich nicht gewinnen und ohne Pferde erst recht nicht."

Sollten niedersächsische Pferdezüchter einmal, vielleicht aus Anlass weiterer Vereinsjubiläen, auch gefallener Pferde als Opfer deutscher Großmannsucht gedenken?

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