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Kategorie: Kulturbetrieb
Bildschirmfoto 2022 05 14 um 00.05.54Der internationale Kunstrechtsexperte Peter Mosimann im tachles-Gespräch zum Umgang mit NS-Raubkunst in der Schweiz und zu einer Expertenkommission

Yves Kugelmann

Basel (Weltexpresso) - tachles: Gurlitt, Bührle – das Thema Raubkunst wird breit diskutiert in den letzten Monaten. Wie ordnen Sie die Aufarbeitung von Raubkunst in der Schweiz und in den Schweizer Museen im internationalen Vergleich ein?

Peter Mosimann: Einige europäische Länder haben unabhängige, zumeist aber nur beratende Kommissionen eingesetzt, welche Fälle von Raubkunst beurteilen. Einige können dies auch gegen den Willen der beschuldigten Partei tun. Die Schweizer Regierung hingegen hat bewusst auf eine solche Kommission verzichtet. Zu Recht hat sie aber die – nicht zwingenden – Bestimmungen der Washington Principles für alle Museen, eidgenössische, kantonale und private, umgesetzt, indem kantonale und gemischt-wirtschaftliche Museen sich bereits 1998 den Washington Principles unterziehen mussten. Ausserdem sind die meisten Museen Mitglieder von ICOM und haben sich zur Einhaltung des ICOM Code of Ethics for Museums verpflichtet. Diese narrativen Normen sind breiter aufgestellt und erfassen z. B. auch den Leihverkehr. Zudem kann eine Fachstelle angerufen werden, sofern beide Parteien einverstanden sind. Das Instrumentarium hierzulande ist auf der Museumsseite vermutlich also gut, aber im Kunsthandel und bei den Kunstsammlern nicht anwendbar.


Woraus entstehen denn die teils recht aggressiven Diskussionen zwischen Anspruchstellern und Museen?

Die meisten Länder kennen eine Verjährung für jeglichen Anspruch gegen bösgläubige Erwerber von Raubkunst. In Deutschland beträgt die Verjährungsfrist 30 Jahre. Danach ist der bösgläubige Erwerber endgültig der Eigentümer. In den USA ist dies je nach Bundesstaat unterschiedlich geregelt, und man sieht, dass dort die Museen gegenüber Ansprüchen relativ resistent reagieren. In Europa hingegen besteht eine Sensibilität bezüglich Untersuchung, Provenienzforschung und dem Finden einer Lösung.


Gibt es in Deutschland darüber hinaus noch spezielle Regelungen?

Ja. Die deutsche «Handreichung» ist ein Regulativ, das den Deutschen 1947 von den Alliierten aufgezwungen wurde. Es enthält Möglichkeiten zugunsten der entrechteten Familien für ein vereinfachtes Verfahren mit einer Beweislastumkehr. Der Anwendungsbereich ist breiter als bei den Washington Principles, die für «Nazi looted art» gelten. Deutschland nahm zur Jahrtausendwende den Begriff «verfolgungsbedingter Entzug» als Standard – was besser ist als unsere schweizerische, zu eng gefasste Definition «Fluchtgut».


Das Thema geht ja heute mit der kolonialen über die Nazi-Raubkunst hinaus. Gibt es dafür quasi zwei unterschiedliche Qualifikationen?

Es sind effektiv zwei Kategorien. Nach den Washington Principles verfügen die Museen, die gestohlene Kulturgüter in der Sammlung entdecken, einen Rechtstitel, um eine Lösung zu finden. Die Museumsdirektion ist in der Lage, rechtmässig ein Kulturgut zu restituieren und sich auf die Washington Principles zu berufen, womit sie keine strafbare ungetreue Geschäftsführung begeht. Beim kolonial bedingten Entzug gibt es keinen solchen Rechtstitel. Die verantwortliche Museums-direktion muss also einen Weg finden, um einen Gegenstand einem Staat oder einem Volksstamm, einer kulturellen Gruppe zurückzugeben. Schwierig ist es auch, wenn es die damals bestohlene Territorialität oder ethnische Einheit heute nicht mehr gibt. Der Abschluss eines internationalen Abkommens, z. B. unter der Ägide der UNESCO, über die Rückführung von in Kolonialzeiten geraubten Kulturgütern wäre begrüssenswert. Nationale Gesetze machen kaum Sinn.


Die Washington Principles gelten für Staaten und nicht für Privatsammlungen. Doch viele private Leihgaben hängen in Museen.

Sie richten sich an die Unterzeichnerstaaten. Die meisten Museen in Europa sind staatlich. In der Schweiz ist die Kultur Kantonssache. Die meisten Museen sind direkt als Dienststelle des Kantons geführt oder aber als gemischt-wirtschaftliche Träger mit hohen Beiträgen der Kantone. Private Museen sind nicht verpflichtet, die Washington Principles einzuhalten. Praktisch alle Museen sind aber ICOM-Mitglieder und damit nach den ICOM Code of Ethics for Museums verpflichtet, sowohl bei Erwerb als auch bei Leihgaben über einen «valid title» zu verfügen. Das geht weiter als die Erfüllung der Washington Principles. Die Museen sind danach verpflichtet, Provenienzforschung über eigene Sammlungsbestände, aber auch über Leihgaben durchzuführen, erst recht über Dauerleihgaben. Der «valid title» erfasst nicht nur den unanfechtbaren Rechtstitel nach dem Gesetzesrecht, sondern auch narrative Normen, also Codes, wie z. B. die Washington Principles.


Wie ist es einzuordnen, wenn – wie beim Fall Gurlitt – ein Museum eine private Sammlung übernimmt und sagt, dass gegebenenfalls Kunstwerke zurückgegeben werden?

Das Kunstmuseum Bern musste, damit die Annahme der Erbschaft von Deutschland und den Erben anerkannt wurde, einer Vereinbarung zustimmen, einem verwaltungsrecht-lichen Vertrag nach deutschem Recht. Dies hatte zur Folge, dass das Kunstmuseum die deutsche Normierung übernehmen musste, was ich für falsch halte. Die Washington Principles und der ICOM Code of Ethics hätten als Rechtsgrundlage genügt, denn das Kunstmuseum hatte richtigerweise eine Verpflichtung unterschrieben, intensive Provenienzforschung zu betreiben und nur jene Bilder zu übernehmen, bei denen ein unanfechtbarer «valid title» vorlag.


Hätte das Kunstmuseum dieses Erbe besser gar nicht angenommen?

Ich halte es für problematisch, dass man eine solche Sammlung aufgrund von ausländischem öffentlichem Recht annimmt. Dadurch wurde die sogenannte deutsche Handreichung anwendbar, die dem Verliererstaat Deutschland von den Alliierten auferlegt wurde. Diese Quelle ist für die Schweiz nicht anwendbar.


Wie sollte man hinsichtlich der Bührle-Bilder generell mit solchen Sammlungen im Spannungsfeld von Recht und öffentlichem Interesse umgehen?

Es ist ja zu begrüssen, dass private Sammlungen für die Öffentlichkeit freigegeben werden. Aber man muss wissen, was man genau übernimmt, und man muss im Handeln zutiefst transparent sein. Das ist im Fall der Bührle-Stiftung ganz offensichtlich misslungen. Der nun ausgehandelte zweite Leihvertrag behebt die Grundmängel. Es ist aber unverständlich, wie eine Stadtregierung den ersten Leihvertrag mittragen konnte, gerade auch vor der Tatsache, dass das Kunsthaus Zürich schon 2012 den ICOM Code of Ethics for Museums unterzeichnet und zusätzlich der Einhaltung der Washington Principles zugestimmt hatte. Der erste Leihvertrag spiegelt das aber nicht wider, wie kürzlich nach Publikation ersichtlich wurde.


Wie definiert sich «Provenienzforschung» anhand der Washington Principles eigentlich?

Wenn ein Museum Mitglied des International Council of Museums (ICOM) ist, ist es gemäss dessen Code of Ethics verpflichtet, Provenienzforschung zu betreiben. Dazu gehört, dass das Museum die Kette der Vorerwerbungen erforscht und auch die Rechtstatsachen aus Verhandlungen und Abschluss des Erwerbs. Nicht anders ist es bei einer Leihe oder dem Abschluss einer Dauerleihgabe.


Wie muss solche Provenienzforschung vor sich gehen?

Zunächst sollen die Eigentumsverhältnisse ab dem Zeitpunkt des Erwerbs des Werkes im Atelier des Künstlers untersucht werden bis zum Erwerb durch den heutigen Eigentümer. Die Forschung selbst muss durch Spezialisten erfolgen, durch Kunstwissenschaftler, Historiker, auch Kunstrechtler, und diese sollten unabhängig sein.


Das Bewusstsein für Raubkunst datiert schon 70 Jahre zurück. Gleich nach Ende des Kriegs begann die Aufarbeitung von Raubkunst. Wie gut steht die Schweiz angesichts dieser langen Zeit da?

Sehr unterschiedlich. Oft wehren sich die Museen mit starken Gutachten. Es gab von Zeit zu Zeit Fälle mit gerichtlichen Anfechtungen. Kürzlich gab es auch einen Fall in der Romandie, bei dem sich die entrechtete Familie gerichtlich wehrte und Recht bekam. Das war durch die Bestimmung im Zivilgesetzbuch möglich, wonach ein unverjährbarer Anspruch des geschädigten Eigentümers besteht, wenn der Erwerber nicht gutgläubig ist. Es ist eine Stärke des Rechts in der Schweiz, nebst den Washington Principles auch im Zivilrecht einen unverjährbaren Anspruch gegen einen bösgläubigen Erwerber bereit zu halten.


Nach Art. 934 ZGB kann der frühere Eigentümer eines Kunstwerks vom nicht gutgläubigen Erwerber jederzeit die Herausgabe verlangen. Was heisst dies im Hinblick auf Ansprüche früherer entrechteter Familien gegen die Bührle-Stiftung?

Gemäss Presseberichten gibt es Bilder, die jüdischen Familien gehörten. Wenn die Erben den vormaligen Besitz und Verlust glaubhaft machen oder gar beweisen, können sie den Prozess einleiten, sofern die Stiftung Sammlung E. G. Bührle bzw. Emil Georg Bührle seinerzeit nicht gutgläubig erworben hat.


Können Sie abschätzen, wie viele Fälle es in der Schweiz bislang gab, die zugunsten der geschädigten Familie entschieden wurden?

Es gab wenige Bundesgerichtsentscheide. Dann gab es erstinstanzliche Entscheide, aufgrund von welchen die Parteien einen Vergleich abschlossen oder die Parteien das erstinstanzliche Urteil akzeptierten. Es gab relativ viele Fälle mit Klageeinreichung und anschliessendem Abschluss eines Vergleichs, so etwa im Fall Jen Lissitzky gegen Ernst Beyeler.


Haben Sie als spezialisierter Anwalt auf diesem Gebiet immer die Opfer vertreten?

In der Regel habe ich die entrechteten Personen vertreten, aber auch schon die Beklagte, so z. B. Institutionen. Es waren indessen relativ wenig Fälle vor Gericht. Viele wurden durch Vergleich erledigt.


Was waren Ihre Erfahrungen als Opfervertreter?

Generell ist es schwierig, in der ersten Instanz durchzukommen. In dem vom Bundesgericht beurteilten Fall 139 III 305 dauerte allein das erstinstanzliche Verfahren sieben Jahre. Oft gibt es einen Vergleich, der übrigens durchaus auch durch die Vermittlung des Richters erwirkt sein kann.


Das Kunstmuseum Basel hat relativ frühzeitig damit begonnen, seine Archive auf Raubkunst durchzukämmen. Sie waren von 2009 bis 2020 Präsident des Kunstmuseum Basel. Was war der Anlass?

Das hing Ende der 1990er-Jahre mit der Untersuchung der Bergier-Kommission zusammen; damals wurden alle Akten des Kunstmuseums der Bergier-Kommission zur Verfügung gestellt. Das förderte ein paar Fälle zutage, bei denen Ansprüche bestanden.


Später gab es eine Diskussion um die Kunstwerke aus der Sammlung von Curt Glaser; der Fall wurde 2020 wieder aktuell.

Wie aus einer Pressemitteilung bekannt ist, hat es der Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt 2008, gestützt auf meine rechtliche Empfehlung, abgelehnt, die Ansprüche der Erben Curt Glaser zu verhandeln. Die Ansprüche erfüllten die Voraussetzungen der Washington Principles nicht. 2020 hat es der Regierungsrat nochmals abgelehnt, die Kunstwerke aus der Sammlung Curt Glaser zu restituieren. Er hat es aber dem Kunstmuseum Basel freigestellt, eine gütliche Regelung zu treffen. In der Folge hat das Kunstmuseum eine «just and fair solution» im Sinne der Washington Principles ohne Restitution, wohl aber mit einer finanziellen Abgeltung getroffen. Diese Regelung wurde vom Regierungsrat unterstützt.


Die Washington Principles beziehen sich auf einen bestimmten Zeitrahmen der Enteignung der Werke. Wie verhält es sich damit?

Die massgebliche Periode beginnt am 31. Januar 1933, als die Nazis an die Macht kamen, und endet am 9. Mai 1945, am Tag der Kapitulation Deutschlands. Es ist allerdings zu erwähnen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg vermutlich mehr Raubkunst gehandelt wurde als während des Kriegs. Der eigentliche Handel begann unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als die gestohlenen Werke in den Kunsthandel gelangten. Ab 1943 hatten die Alliierten jeglichen Kunsthandel verboten. Über diesen Erlass haben die Schweizer Zeitungen ab 1943 mehrfach berichtet. Der Erlass sowie das anwendbare Militärgesetz Nr. 52 der Alliierten vom April 1945 galt bis zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland von 1949. Meines Erachtens konnten die Kunstkäufer in dieser Periode nicht gutgläubige Erwerber sein.


Ist ein solcher Händler heute noch belangbar, wenn die Werke später in Museen kamen?

Nein, denn der Händler verfügt nicht mehr über das jeweilige Bild, und das trifft auch zu, wenn er damals nicht gutgläubig gehandelt hatte. Wenn der spätere Käufer nicht wissen konnte, dass es sich um Raubkunst handelte – was zu vermuten ist –, so hat er als gutgläubiger Erwerber nach fünf Jahren das Eigentum endgültig erworben und es bestehen keine rechtlichen Ansprüche mehr. Anders bei einem bedeutenden Sammler zu Zeiten unmittelbar nach der Kapitulation Deutschlands. Dieser musste das Verbot, Kunst zu kaufen, gekannt haben. Diesbezüglich dürfte Gutgläubigkeit gefehlt haben. Hier besteht unvermindert ein unverjährbarer Anspruch der entrechteten Person, sofern das fragliche Werk zwischenzeitlich nicht verkauft wurde.


Leben unter diesen Umständen die Museen auch heute unter einem massiven Druck, allenfalls sogar einer ständigen Angst?

Angst würde ich nicht sagen. Es besteht Grund zur Wachsamkeit. Wenn heute ein Museum etwa ein Werk kauft, muss es wissen, worauf es achten muss. Es ist zur sorgfältigen Provenienzforschung verpflichtet. Das gilt sicher für die Kunsterwerbungen ab 31. Januar 1933, nach meinem Dafürhalten aber auch ganz besonders für die Periode unmittelbar nach 1945, als ein reger Kunsthandel wieder begann.


Fallen darunter Werke der Sammlung Bührle?


Es mag in einer so grossen Sammlung solche Bilder haben.


Es bleibt die Frage, was man unter all diesen Aspekten mit Sammlungen wie jenen von Gurlitt oder Bührle letztlich tun soll, die unter moralischen Gesichtspunkten eigentlich von Museen nicht übernommen werden sollten.

Unabdingbar ist, dass das Museum alle Erwerbungen einer Sammlung recherchiert und dazu transparent kommuniziert. Mit dem neuen Leihvertrag verfügt das Kunsthaus Zürich über die erforderliche Unabhängigkeit, um die Person Bührle nicht nur als Sammler, sondern auch als Waffenproduzenten und streitbaren Kunstsammler aufzuzeigen. Im Fall Gurlitt hat das Kunstmuseum Bern die Geschichte des Sammlers aufgearbeitet. Das war dem Kunstmuseum Bonn offenbar ausreichend; es hat die Dokumentation des Kunstmuseums Bern für die Ausstellung in Bonn übernommen. Die Sammlung Gurlitt besteht auch aus Beständen des Vaters von Cornelius Gurlitt, nämlich Hildebrand Gurlitt. Dieser war 1943 massgeblich am blutigen Raubzug Rosenberg – dem Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg – quer durch Frankreich beteiligt. Er war auch einer der vier Kunsthändler von Hitler. Ob eine solche Sammlung gezeigt werden soll, ist nicht eine rechtliche Frage, solange der «valid title» im Sinne des ICOM Code of Ethics erfüllt ist. Es geht um eine ethische Frage.


Wären Sammlungen wie Bührle oder Gurlitt heute im europäischen Ausland in öffentlichen Museen ausstellbar?

Die Sammlungsbestände der Stiftung Bührle und auch des Gurlitt-Nachlasses können überall in öffentlichen Museen als Leihgabe oder eigenes Sammlungsgut ausgestellt werden, sofern die narrativen Normen, wie Washington Principles und ICOM Code of Ethics for Museums, erfüllt sind. Es geht vor allem um den Nachweis durchgeführter Provenienz-recherchen wie auch Transparenz in der Kommunikation. Das geht einher mit wissenschaftlich fundierten Begleittexten. Zum Schluss stellt sich indes immer noch die Frage der ethischen Verantwortlichkeit.


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©Peter Mosimann verfügt über langjährige Erfahrung in der Beratung von privaten und öffentlichen Kunst- und Kulturunternehmen.