Oliver Reese stellt das Programm seiner letzten Spielzeit als Frankfurter Schauspielintendant vor, Teil 1

Klaus Philipp Mertens


Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Ein erster Blick sei ins Programm des Schauspielhauses geworfen: Zwischen September 2016 und Juni 2017, also innerhalb von zehn Monaten, wird es dort acht Premieren geben.


Eine davon wird in der Spielstätte „Bockenheimer Depot“ aufgeführt. Die letzte im Juni nächsten Jahres wird ein Remake von Reeses erster Aufführung sein, nämlich Sophokles‘ Ödipus in der Regie von Michael Thalheimer; dann jedoch in der Weseler Werft. Da soll ein Paukenschlag zum Abschied sein, in der Zeit bis dahin wird die Trommel nicht immer heftig gerührt - so zumindest der erste Eindruck. Das Programm wirkt ausgedünnt, was bereits für die laufende Saison anzumerken ist. Denn in den Jahren davor wurde im Durchschnitt eine Premiere pro Monat angeboten.
 
Kritiker der bösen Sorte unterstellen deswegen dem Intendanten, er befände gedanklich bereits beim „Berliner Ensemble“ und Frankfurt stünde nicht mehr im Vordergrund seiner Pläne. Andere Gemeinlinge sehen gar die großen Ambitionen, mit denen Reese 2009/10 antrat, als mittlerweile erschöpft an. Denn sonst hätte er alles daran gelegt, sein Haus weiter zu profilieren, so wie es sein Opern-Kollege Bernd Loebe erfolgreich praktiziert.

Hingegen verweisen Realisten auch darauf, dass das Frankfurter Schauspiel sparen müsse. Und Einsparungen im öffentlichen Sektor bedeuten Streichung von Leistungen. Auch Kulturdezernent Felix Semmelroth, der wegen der neuen politischen Konstellationen soeben für Juli seinen Rücktritt angekündigt hatte, konnte das Schauspiel nicht vor dem politisch verordneten Sparkurs bewahren. Und bewies damit das weithin gültige Vorurteil, demzufolge Kulturpolitiker zumeist eine Position zwischen allen Stühlen einnehmen müssten und selten über eine Hausmacht verfügten.

Die Schauspielhaus-Premieren starten am 10. September mit Kay Voges‘ Inszenierung „Königin Lear“. Der Belgier Tom Lanoye hat Shakespeares Königsdrama in die Gegenwart gerückt und in der Welt der Hochfinanz platziert. Im Mittelpunkt steht die Patriachin eines großen Familienunternehmens, die - ähnlich wie in der Vorlage - ihr Haus bestellen und es in die Hände ihrer Söhne geben möchte. Kay Voges, Intendant in Dortmund, der mit „Endstation Sehnsucht“ in Frankfurt brillierte und mit „4.48 Psychose“ eher enttäuschte, sei empfohlen, mit seinem Lieblingsinstrument, der Videokamera, sparsam umzugehen. Die besten Bilder entstehen im Kopf; Text, Dramaturgie und Bühnendekoration sind eigentlich nur Katalysatoren, wenn auch unverzichtbare.

Das Tanztheater ist seit William Forsythes Abgang 2004 als Frankfurter Ballettdirektor (es ging ums Einsparen!) in dieser Stadt kaum noch präsent. Deswegen berechtigte Falk Richters Inszenierung „Zwei Uhr nachts“ im Jahr 2015 zu neuen Hoffnungen. Dem soll mit der Uraufführung von „Safe Places“ am 8. Oktober weiter entsprochen werden. Thematisch geht es um einen neuen Nationalismus in Europa, der sich durch Grenzzäune und Fremdenfeindlichkeit manifestiert. Choreografin wird die Niederländerin Anouk van Dijk sein.

Im November könnte das Schauspielhauspublikum wieder einmal mit unendlich großen, dunklen und leeren Räumen konfrontiert sein. Denn Michael Thalheimer inszeniert Heinrich von Kleists „Prinz von Homburg“. Das klingt nach solider Standardkost, die in räumlichen Gigantismus verpackt wird. Aber es gibt dafür nachweisbar eine große Fan-Gemeinde.

Im vermeintlich traurigen Monat November ist eine weitere Premiere zu sehen. Die amerikanische Opernregisseurin Lydia Steier inszeniert ein „musikalisches Familientableau in vier Akten“, das den Titel trägt „Kein schöner Land“. Eine konfliktscheue Durchschnittsfamilie erlebt vor dem Hintergrund einer angekündigten Naturkatastrophe den Zusammenbruch gepflegter Verlogenheiten. Dies wird in einem musikalischen Rahmen abgehandelt, der von Unterhaltungsmusik der 60er und 70er Jahre, von Volksliedern, aber auch von Kompositionen von Bach und Schubert geprägt ist. Bleibt zu hoffen, dass der „American Way of Life“ (die Texte stammen vom hierzulande wenig bekannten Frederik Laubemann) nicht vom angekündigten „ganz normalen deutschen Alltag“ verstärkt wird und dass statt Entlarvung nicht lediglich ein kleines Nein zum großen Ja stattfindet.

Inhaltliche Bezüge zu „Kein schöner Land“ scheint Oliver Reeses Inszenierung „Eine Familie“ aufzuweisen, die im Januar 2017 Premiere feiert. Stärken und Grenzen des familiären Zusammenhalts werden in dem Stück von Tracy Letts (Originaltitel „August: Osage County“) auf teils humorvolle, teils tragische Weise deutlich. Im deutschsprachigen Raum erlebte das Stück, für das Letts 2008 den „Pulitzer Preis für Theater“ erhielt, bereits mehrere Inszenierungen. So am Wiener Burgtheater, am Ernst Deutsch Theater, am Schauspielhaus Bochum und am Staatstheater Nürnberg.

Im März steht die Premiere und deutschsprachige Uraufführung von „Drei Tage auf dem Land“ an, eine Inszenierung von Andreas Kriegenburg (in Frankfurt u.a. bekannt durch „Die Möwe“ und „Der Sturm“). Er bedient sich eines Textes von Patrick Marber, der Turgenjews Komödie bearbeitete. Es geht um Liebe, Leidenschaft und Eifersucht. Das Geschehen, das im Original im Russland des 19. Jahrhunderts angesiedelt ist, wurde von Marber in die Gegenwart übertragen.

Das Bockenheimer Depot wartet im Februar mit der Premiere von Ulrich Rasches Doppelprojekt „Sieben gegen Theben / Antigone“ auf. Aischylos letzter Teil der Ödipus-Trilogie, in dem es um den Kampf der Ödipus-Söhne geht, die sich um die ihnen übertragene gemeinsame Regentschaft streiten, was den Ersten Thebanischen Krieg auslöst. Verzahnt wird das Geschehen mit Sophokles „Antigone“.

Es bleibt zu hoffen, dass Ulrich Rasche die literarischen Vorlagen genauer analysiert, als er das bei der Inszenierung von Büchners „Dantons Tod“ tat. Dort berücksichtigte er die Differenzen zwischen Büchners Original und Karl Gutzkows Entschärfung, die einer Zensur gleichkam, nicht (was ein großer Teil des Publikums offensichtlich nicht bemerkte bzw. schlicht nicht wusste).

Mit dem Programm der „Kammerspiele“ und der „Box“ beschäftigen sich die Teile 2 und 3 dieser (subjektiven) Vorschau. Fortsetzung folgt

Foto:
Der Zuschauerraum des Frankfurter Schauspielhauses, meist gut gefüllt © Schauspiel Frankfurt

Info:
Der Begleitband zur Spielzeit 2016/17 kann im Internet heruntergeladen werden:
https://www.schauspielfrankfurt.de/download/10611/scfr_spielzeitheft1617_web_klein.pdf