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Kategorie: Kulturbetrieb

Aber die Frankfurter SPD tut sich damit schwer

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Als Frankfurts Oberbürgermeister Peter Feldmann 2013 seine „Thesen zur Kulturpolitik in Frankfurt am Main“ veröffentlichte, lieferte er den Gegnern einer emanzipativen Kulturpolitik die besten Argumente für das Festhalten an der bisherigen Kultur für wenige.


Insbesondere das Schlagwort von der Kultur als Schmiermittel in der Sozialpolitik scheint die geistige Situation der Sozialdemokratie zu entlarven. Denn es erweckt den Anschein, dass Kultur und Politik antagonistische Bereiche seien. Zwischen den Zeilen des Papiers kann man herauslesen, dass Kultur lediglich als Dienerin der Politik, vor allem der Sozialpolitik, zu akzeptieren sei. Diese, möglicherweise leichtfertig in die Welt gesetzte, Auffassung macht es jenen, die sich als (elitäre) Stadtgesellschaft definieren, allzu einfach, auf die angeblich übergeordnete Rolle der Kultur zu verweisen und ihr lediglich eine Position jenseits aller Ideologien zuzugestehen. Doch gerade das ist Kultur eben nicht.

Der Gießener Politikdidaktiker Wolfgang Hilligen (1916-2003), zwischen 1957 und 1985 Hunderttausenden Schülern (zumindest indirekt) bekannt geworden als Herausgeber und Mitverfasser der Schulbuchs „Sehen - Beurteilen - Handeln“, schrieb für das in gewerkschaftlichen Kreisen vielgenutzte Lexikon „Gesellschaft und Staat“ (Baden-Baden 1976) zum Thema Kultur:

„Die Summe aller Lebensäußerungen und Gestaltungen des Daseins machen die Kultur einer Epoche oder eines Volkes aus. [...] Im engeren Sinn versteht man in den Hochkulturen als Kultur diejenigen Lebensäußerungen, die den Zweck des bloßen Überlebens überschreiten: Werke der Sprache, der Bildenden Künste. [...] Eine Gesellschaft, die die Gleichheit als unverzichtbares Kennzeichen der Menschenwürde verwirklichen will, muss die Voraussetzungen dafür schaffen, dass möglichst alle an der Kultur ihrer Epoche teilhaben können. Dieser Aufgabe dient die Kulturpolitik: Sie soll die Voraussetzungen schaffen für die schöpferische Tätigkeit von Einzelnen und Gruppen, für die Anteilnahme des Volkes, für die Erhaltung und Pflege kultureller Werke und Werte.“

Genau darum sollte es Sozialdemokraten (und allen, die das normale Volk zu vertreten vorgeben) gehen: Nämlich die schöpferischen Tätigkeiten der Menschen zu unterstützen und allen die Teilnahme an diesen Prozessen der persönlichen und gesellschaftlichen Reflexion zu ermöglichen. Dies würde zudem einstmals hoch im Kurs stehende Traditionen der Arbeiterbewegung aufgreifen. Wer seine Situation nicht reflektiert, wird sie nicht verändern können.

Denn über mehr als ein Jahrhundert, vom Beginn des 19. bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts, galten die Beschäftigten in der Kulturbranche, allen voran die Setzer und Drucker, als die Aristokratie des Proletariats. Deren politisches Bewusstsein speiste sich aus der Reflektion ihrer Arbeit. Wer beispielsweise Zeitungen, Zeitschriften und Bücher setzte und druckte, las in der Regel auch die Produkte. Und verinnerlichte in kritischer Aneignung ihre Themen und Aussagen.

In Arbeiterbildungsvereinen wurde neben der Beschäftigung mit den sozialistischen Klassikern die Auseinandersetzung mit Literatur, Theater und Bildender Kunst als ein Weg zur vollen gesellschaftlichen Teilhabe gepriesen, der zumindest theoretisch jedem offenstand. 1924 wurde vom Bildungsverband der Deutschen Buchdrucker die „Büchergilde Gutenberg“ gegründet, um Arbeitern und Angestellten den Erwerb preiswerter und inhaltlich anspruchsvoller Literatur zu ermöglichen. Diese Buchgemeinschaft befand sich bis 1998 unter dem Dach des Deutschen Gewerkschafts-Bundes, der sich dann aus finanziellen Gründen von ihr trennte.

Die Kultur, vor allem, wenn sie etwas kostet, schien nicht länger auf der Prioritätenliste der deutschen Arbeitnehmerschaft zu stehen. Peter Feldmann und seine Berater sind erkennbar Produkte dieser anti-sozialen Fehleinschätzung. Wenn dem Oberbürgermeister die Leistungen des langjährigen Städel-Chefs Max Hollein und dem bisherigen Kulturdezernenten Felix Semmelroth als zweifelhaft erschienen sind, warum hat er bei deren Verabschiedung nicht deutlich nachgefragt, wie vielen Normalbürgern sie im Sinne einer „Kultur für alle“ den Weg in die Museen und das Schauspiel ermöglicht hätten?

Dann wäre eine hervorragende Gelegenheit gewesen, beispielsweise an Bertolt Brechts Epos „Die Literatur wird durchforscht werden“ zu erinnern:

„Aber in jener Zeit werden gepriesen werden
Die auf dem nackten Boden saßen, zu schreiben
Die unter den Niedrigen saßen
Die bei den Kämpfern saßen.“

Aber dazu müsste man Brecht kennen, was für manchen Sozialdemokraten (und ebenso manchen Linken) anscheinend längst nicht mehr selbstverständlich ist.

Vielleicht aber geschehen noch Zeichen und Wunder. Am 9. September beginnt im Frankfurter Schauspiel die neue Spielzeit. Ich würde mich sehr freuen, wenn dann das standes- und kulturbewusste Proletariat die so genannte Stadtgesellschaft erkennbar an den Rand drängen würde.

 

Foto: Screenshot hr