Paul Auster stellte seinen neuen Roman „4 3 2 1“ in Frankfurt am Main vor

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Am 3. Februar 2017 wurde der renommierte US-amerikanische Schriftsteller Paul Auster siebzig Jahre alt. Auf den Tag genau erschien sein neuester Roman, der den ungewöhnlichen Titel "4 3 2 1" trägt.



Auf 1264 Seiten beschreibt er darin das Leben des fiktiven Archie Ferguson während der 1950er und 1960er Jahre. Es ist eine Lebensbeschreibung, die - wie der Autor in mehreren Interviews versicherte - keine nennenswerten autobiografischen Züge trage. Das Besondere dieser voluminösen und detailreichen Erzählung ist ihre vierfache Perspektive. Denn das Leben des Protagonisten hätte völlig anders verlaufen können, wären andere, aber durchaus realistische, Zufälle eingetreten.

Die Zuhörer im ausverkauften Frankfurter Schauspielhaus, das die Präsentation zusammen mit dem Literaturhaus am 15. März veranstaltete, sahen gespannt und erwartungsvoll dem Auftritt Paul Austers entgegen. Der betrat nach einer kurzen Einführung durch Hauke Hückstädt, dem Leiter des Literaturhauses, völlig ohne Starallüren die karg ausgestattete Theaterbühne. Begleitet wurde er von Daniel Haas von der Literaturredaktion der ZEIT, der das Gespräch führte und übersetzte.

Und dann ging es zur Sache, respektive zum Inhalt dieses Buches, das vermutlich Literaturgeschichte schreiben wird:

Archibald Ferguson, so der Name des Protagonisten, wird am 3. März 1947 in New Jersey geboren – genau einen Monat nach seinem Erfinder.

Das erste Kapitel schildert die Geschichte seiner Großeltern:

„Der Familienlegende zufolge verließ Fergusons Großvater, versehen mit hundert Rubeln, die ins Futter seines Jacketts eingenäht waren, zu Fuß seine Heimatstadt Minsk, gelangte über Warschau und Berlin nach Hamburg und buchte dort die Überfahrt auf einem Schiff namens „Kaiserin von China“, das bei rauen Winterstürmen den Atlantik überquerte und am ersten Tag des zwanzigsten Jahrhunderts im New Yorker Hafen einlief.“
Durch ein sprachliches Missverständnis wurde dieser Isaac Reznikoff, der sich auf Empfehlung eines Freundes lieber des amerikanischen Namens Rockefeller hätte bedienen sollen, diesen aber vergaß, von der Einwanderungsbehörde als Ichabod Ferguson registriert. Ein erster Zufall, dem sich noch unzählige weitere anschließen.

In den nächsten 36 Kapiteln begleiten die Leser einen Jungen und später einen jungen Mann durch die auch in den USA ziemlich spießigen Fünfzigerjahre und nehmen mit ihm Anteil an den gesellschaftlichen Aufbrüchen und Auseinandersetzungen in den Sechzigern. Die vier Fergusons, also der vierfache Archie, wachsen in New Jersey auf, lieben Baseball, Filme und Literatur. Mal quält Archie sich mühevoll durch seine Alltage, mal schlägt er sich besserwisserisch durch Höhen, Ebenen und Tiefen der Zeit, mal bleiben seine Mutter und sein Vater ein verheiratetes Paar, mal sind sie geschieden und neu liiert, mal sind sie wohlhabend, mal finanziell abgebrannt, mal liebt Ferguson Amy und sie ihn, dann wieder bleibt sie die zu seinem Leidwesen unberührbare Stiefschwester. Mal liebt er Frauen, mal Männer, mal weiß er nicht, wohin er sich sexuell orientieren soll.

Die Lektüre fordert dem Leser einiges ab, nämlich Durchhaltevermögen ob des gewaltigen Umfangs und Konzentration auf die jeweilige Variante, in der ihm Archie, seine Mitmenschen und ihre Welt so unterschiedlich begegnen. Demgegenüber wird er verwöhnt durch eine extrem präzise und anschauliche Sprache, die das Beste an erzählerischem Können versammelt, was die Literatur überhaupt zu bieten hat. Dieser vierfache Mikrokosmos, den der heranwachsende Archie durchkämmt, vollzieht sich trotz der detailreichen Schilderungen in einem geradezu atemberaubenden Tempo.

Das Schauspiel Frankfurt hat die Aufgabe, dem deutschsprachigen Leser diesen Archie Ferguson nahezubringen, dem Schauspieler Christoph Pütthoff übertragen. Und der versetzt durch seinen intensiven, mit passenden Gesten angereicherten Vortrag, der gleichzeitig eine geniale Leichtigkeit verströmt, die Zuhörer mitten in das Geschehen hinein, sodass sie jede Sequenz unmittelbar spüren können. Nicht wenige von ihnen haben sich nach der Lesung ein Hörbuch, von Pütthoff gesprochen, gewünscht.


Paul Auster hat den Rest des Kapitels dann selbst im englischen Original vorgetragen und bewiesen, dass es Autoren gibt, die sowohl schreiben als auch vorlesen können.

Bei der Erstpräsentation der deutschen Übersetzung in Berlin, zwei Tage vorher, wurde Auster gefragt, was ihn zur Komposition dieses Buches bewogen habe. Es sei ihm, so die Antwort, um die Frage gegangen, was wäre, wenn? Diese Frage beschäftige ihn seit seinem vierzehnten Lebensjahr. Damals musste er in einem Sommercamp miterleben, wie bei einem Gewitter ein Junge direkt neben ihm vom Blitz getroffen wurde und sofort starb. Er selbst, der sich nur wenige Zentimeter entfernt befunden hatte, überlebte völlig unverletzt. „Von einem Moment auf den anderen habe ich den festen Boden unter den Füßen verloren - ich habe verstanden, dass das Leben unendlich unsicher ist und jedem in derselben Minute alles Mögliche passieren kann.“

„4 3 2 1“ ist ein Bildungs- und Entwicklungsroman. Archie, und das trifft auf jede seiner vier Versionen zu, ist bildungshungrig, liest viel, lernt ständig hinzu, schreibt selbst und ist hochinteressiert an Zeitgeschichte, Politik und Philosophie (hier schlägt Austers eigene Biografie erkennbar durch). So wie er die Studentenrevolte, die Rassenunruhen und den Protesten gegen den Vietnamkrieg, vielfach mit persönlichem Engagement, erlebt, ist es auch manchem aus der 68er-Generation in Deutschland ergangen.

Schließlich begibt sich der letzte Archibald Ferguson auf den Weg nach Paris, um zu schreiben und französische Lyrik ins Englische zu übersetzen. Dort hat schon einer seiner Nebengänger gelebt und ebenfalls ein Buch verfasst, allerdings ein völlig anderes.


Während des Gesprächs, das Daniel Haas mit Auster führte, kam unweigerlich die Rede auf Donald Trump. Von dem ist überliefert, dass er den Geruch von Büchern nicht ausstehen könne. Eher widerwillig ließ sich Paul Auster zu Äußerungen über seinen Präsidenten bewegen, den er D.T. nannte: „Ich weiß nicht, ob ich über diese groteske Figur sprechen möchte, die jetzt das Weiße Haus bewohnt.“ Und er fuhr dann völlig undiplomatisch fort: „Wir laufen Gefahr, die guten Dinge in diesem Land zu verlieren. Denn trotz all der Fehler und Probleme, ist es immer noch ein außerordentlich interessanter Ort, an dem wir leben wollen und den wir lieben, auch dann, wenn wir ihn verändern wollen.“



Bibliografische Daten zum Buch

Paul Auster: "4321"
Aus dem Englischen von Thomas Gunkel, Werner Schmitz, Karsten Singelmann und Nikolaus Stingl
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017
1264 Seiten Hardcover
Ladenpreis 29,95 Euro