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Kategorie: Kulturbetrieb

Martin Walser zum 90. Geburtstag. Eine Phantasie in zehn Ansätzen

Alexander Martin Pfleger

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Wir wollen ihn nicht interpretieren, nicht irgendeinen Zug aus dem Zusammenhang herauslösen und ihn zu einem kleinen kulturkritischen Ausflug ausmünzen: Vielmehr den Versuch wagen, ihn vor seinen Interpreten zu schützen; lediglich den Bestand an Auffallendem, Wiederkehrendem, Typischem zu registrieren; von aller vorhandenen Wirklichkeit abzutrennen; fernzuhalten von Vergleichen mit der Wirklichkeit, Symbolbezüge jeder Art auszuschließen – kurz, zu beschreiben, wie die Form seiner öffentlichen Selbstgespräche entsteht.


Ansatz Eins: Öffentliche Selbstgespräche?

„Wer im Selbstgespräch das sagt, was er auch draußen im gesellschaftlich gegebenen Raum sagt, der kann sich als integriert beziehungsweise als gerettet vorkommen. Der kann Bundespräsident werden.“

So formulierte er es in den „Platonischen Stimmbändern“. Keine Kritik an einem bestimmten Bundespräsidenten, auch nicht am Amt selbst, wohl aber an der „Funktion Bundespräsident“, die alle in der Öffentlichkeit Tätigen – Intellektuelle, Leitartikler, Medienleute schlechthin – ausübten: „die Pflege der Sagbarkeit. Auf daß das Unsägliche verschwinde. Nie werde ich erfahren, ob die Damen und Herren der Sagbarkeit in sich ein Selbstgespräch erfahren, das sich unterscheidet von dem, was sie öffentlich pflegen.“

Wer sich mitteilen möchte, muß in die Öffentlichkeit gehen – und hat dabei auch das Recht, mißverstanden zu werden.



Ansatz Zwei: Ein Sprachbegeisterter

Irrtümlich vermeinen wir, um der Dinge willen zu sprechen, wie bereits Novalis in seinem von ihm oft zitierten „Monolog“  betonte. Vielmehr mache die Sprache gleich mathematischen Formeln eine Welt für sich aus; „das rechte Gespräch ist ein bloßes Wortspiel.“ Und doch: „Der Schmerz ist der Grund-Riss zu Walsers Werk und Leben“, wie Arnold Stadler jüngst im FOCUS schrieb. Doch welches ist der größte Schmerz? Vielleicht der, den Walser in seinem 4. Hauptsatz der menschlichen Wärmelehre definierte: „Jeder Mensch wird zum Dichter dadurch, daß er nicht sagen darf, was er sagen möchte.“ Also drückt die Sprache doch mehr aus als nur sich selbst? Mehr als nur „ihre wunderbare Natur“? Vom „unkommandierbaren Reichtum der Sprache“ ist bei ihm häufig die Rede, auch von der „ungetauften Sprache“. Ist sie dann ganz bei sich selbst?



Ansatz Drei: Ein politisch´ Lied – ein mißverständlich´ Lied

Der Widerspruch – hier Hölderlin auf dem Dachboden und Stifter unterm Apfelbaum, dort der Marktplatz der Meinungen und die vorgehaltene Meinungspistole. „Statt des politischen Autors, der er wenigstens zu gewissen Zeiten gern gewesen wäre, blieb er doch insofern auf eine typisch deutsche Weise unpolitisch, als er die Wirkungen nicht absah, die er hervorrief. Und reagierte darauf mit einer treuherzigen Bockigkeit, die alles noch schlimmer machte.“ So formulierte es Burkhard Müller dieser Tage treffend in der „Süddeutschen Zeitung“. Seine Aktionen – ob als Kritiker des Vietnamkriegs, Wahlredner für die DKP, Fürsprecher der Deutschen Einheit, Kritiker unserer Erinnerungskultur und zuletzt Verteidiger des gestürzten Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg – lassen sich daher alle weniger auf ein konkretes politisches Kalkül denn auf eine generelle Erregbarkeit, ja Reizbarkeit seinerseits zurückführen.

Er lebte in seiner Jugend einerseits unter seiner Gedichtglocke, wies in seiner Dankesrede anläßlich des Erhalts des Hermann-Hesse-Preises auf das Paradoxon hin, als gesellschaftskritischer Schriftsteller von einer Gesellschaft gerade deshalb mit einem Preis geehrt zu werden, weil er ebendiese Gesellschaft kritisiere, und wunderte sich über das rege politische Interesse seiner Kollegen bei der Gruppe 47 – holte dann aber schnell im Politischen oder zumindest im politischen Engagement auf, engagierte sich gegen Strauß, formulierte den Springer-Boykott und erweckte gar den Anschein, die Gruppe 47 zu einem sozialistischen Kampfbund umfunktionieren zu wollen. Dazu – vielleicht – sein Meßmer: „Die schöne Illusion, daß es für alles einen Ausdruck gebe.“ Wie behauptet man sich gegenüber der Gegenwart? „Vielleicht habe ich mit der Gegenwart noch nie viel anfangen können. Sie hat immer zuerst Vergangenheit werden müssen. Außer beim Schwimmen, möchte ich da einwenden. Schwimmend sind wir vollkommen im Jetzt. Sind etwas Schwebendes, Leichteres, Nirgendwohingehöriges. Allerdings sind wir doch äußerst verfügbar.“



Ansatz Vier: Sein Auschwitz-Prozess

„Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz; kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum; wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, daß sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt. Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen.“ Der dies Ende der 1990er Jahre im Rahmen eines öffentlichen Selbstgesprächs in der Stadt Goethes und Fritz Bauers aussprach und dafür gescholten ward, obgleich er doch lediglich mahnte, mit Auschwitz kein Schindluder zu treiben, war Anfang der 1960er Jahre einer der Ersten, der dortselbst hinschaute, um zu verstehen. Sein Auschwitz-Prozess war niemals abgeschlossen, ist nicht abzuschließen – stets begreift er sich auf der Täterseite stehend, nichts ist für ihn vergangen. Jeder Versuch, Auschwitz zu instrumentalisieren – für durchaus edle Zwecke zu instrumentalisieren! – bedeutet ihm gleichzeitig auch das Bemühen, und sei es auch nur um ein Millimeterbreit von der Täterseite weg in Richtung auf die Opferseite zu rücken. „Das Ausmaß unserer Schuld ist schwer vorstellbar. Von Sühne zu sprechen ist grotesk. Mir ist im Lauf der Jahrzehnte vom Auschwitz-Prozess bis heute immer deutlicher geworden, daß wir, die Deutschen, die Schuldner der Juden bleiben. Bedingungslos. Also absolut. Ohne das Hin und Her von Meinungen jeder Art. Wir können nichts mehr gutmachen. Nur versuchen, weniger falsch zu machen.“ Kein Weg zurück also. Keine heile Welt. Aber – er schaute nie weg. Er verwilderte nicht.



Ansatz Fünf: Don Quixote greift zur Feder

Im er(n)sten Superwahljahr war´s, da ich den Abenteuern des Junkers von La Mancha in der Nachdichtung Ludwig Tiecks folgte. Von Walser wußte ich, daß er einen seiner Romanhelden über sich sagen ließ, er sei Don Quixote, nachdem dieser gelesen habe, was Cervantes über ihn geschrieben habe. Vielleicht war mir damals schon sein anderer Ausspruch zu Ohren gelangt, der Held eines neuen Don Quixote hiesse nicht mehr Don Quixote, sondern Cervantes. Vor allem jedoch war er für mich eine Negativfigur – trotz aller Verrisse der Inbegriff des Feuilletonlieblings, bewundert viel und viel gescholten, wenn auch die Bewunderung eher vager Natur war: Ein Talent, gewiß, aber ohne Meisterwerk, wie etwa beim Altersgenossen Grass „Die Blechtrommel“, demgegenüber nahezu alles andere ein zeitweiliges Nachlassen der Kräfte bedeuten mußte. „Bodensee-Behaglichkeit“, allerhöchstens Kompromisse, wie in den „Ehen in Philippsburg“, dem angeblich besten seiner Romane. Mordlüstern tat ich eines Freitagmorgens im Herbst den ersten Blick in die „Brandung“, um sie und ihren Verfasser im Deutschleistungskurs in der Luft zu zerreißen  – und war sofort eingenommen von Helmut Halm, der, wiewohl schon längst mit dem Rasieren fertig, nicht aufhören konnte, „sein Gesicht mit einer unauflösbaren Mischung aus Mißgunst und Genuß zu betrachten.“ Da dachte ich an Don Quixote – ob nun nach oder vor dessen Cervantes-Lektüre? Und warum?



Ansatz Sechs: Chef-Sachen

Walser schrieb einst, seine Romanfiguren dächten des Nachts im Urlaub an ihre Vorgesetzten und wüßten dabei ganz genau, daß diese nicht an sie dächten. So auch Helmut Halm. Dafür verspottete ihn unsere Kursleiterin. Bezüglich einer negativen Kritik von Peter Demetz (galt sie dem „Brief an Lord Liszt“?) merkte Walser an, der Fehler sei, daß seine Bücher von den „Chefs“ besprochen würden. Ein „Chef“ war für ihn lange Zeit auch Thomas Mann, in dessen Ironie er nur Machtausübung wahrzunehmen vermochte und keinerlei Selbtsentäußerung. Zum Eindrucksvollsten, das einem das Studium der Werke Walsers vermitteln kann, zählt seine späte Hinwendung zu ihm.



Ansatz Sieben: Takt-Vorgaben

Klaus Harpprecht warf Walser angesichts der Paulskirchenrede sowie seines früheren Lobs der Sowjetunion, und dies gerade auch im Hinblick auf Solschenizyn, das Fehlen jeglichen Taktgefühls vor. Mangel an Takt diagnostizierte bereits Friedrich Sieburg in seiner Besprechung der „Halbzeit“ an einer ihm signifikant dünkenden Stelle und warnte, daß mit der Taktlosigkeit die Unmenschlichkeit beginnen könne. Den Takt zur Beurteilung seines literarischen Schaffens hatten schon sehr früh Sieburg und sein Nachfolger Marcel Reich-Ranicki vorgegeben – ein unleugbares Talent, ein Sprachvirtuose sondergleichen, der aber nichts zu sagen habe, dem das Thema fehle, der letztlich auch kein Erzähler und erst recht kein Romancier sei: Am ehesten noch in den „Ehen in Philippsburg“, deren Stärken in einigen wenigen Passagen eher essayistischen Charakters lägen. Irgendwann nach der Jahrtausendwende trat der Wandel ein. Walser war plötzlich nicht mehr das ewige Talent, der „Fall“, sondern firmierte immer mehr neben Grass als Altmeister. Ob sich das auch daran ablesen läßt, daß immer häufiger die „Halbzeit“ als sein Meisterstück gewürdigt wurde – bei allen Bestrebungen, die „Ehen in Philippsburg“ kaum minder radikal denn „Die Blechtrommel“ erscheinen zu lassen?



Ansatz Acht: In Kafkas Hand

Der Realismus mag ihm eine stetige Versuchung geblieben sein, aber von Kafka kam er her, und er ist zu sprachbegeistert, um Realist im platten Sinne zu sein. „Er kniete am Schlüsselloch zu allen Türen, und wenn kein Schlüssel steckte, war es für ihn schon ein Triumph.“ Dieser Satz aus den „Ehen in Philippsburg“ ist nicht das, was man im landläufigen Sinne „kafkaesk“ nennt, aber er deutet auf Kafka. Und er könnte von Meßmer stammen. Vielleicht war Walser, der anfangs Mühe hatte, nicht als Kafka-Epigone abgestempelt zu werden, stets bestrebt, einzelne Momente Kafkas in den Realismus zu überführen? Aber so oft man ihm auch die Schlüssellochperspektive vorwarf oder zumindest andichtete – das ist seine Sache nicht. Sie war es auch nicht im „Tod eines Kritikers“. Ein deutscher Philip Roth oder John Updike wollte er nie sein – vielleicht ein weiteres Grundmißverständnis.



Ansatz Neun: Ein Wortspiel

Selbstmorde finden sich auch in seinem Werk an bezeichnender Stelle. Und Meßmer schreibt: „Sein Ehrgeiz: So lange seine Hände trainieren, bis er sich selber erwürgen könnte.“ Das wäre dann die optimale Mitwirkung bei seinem Ende.

Vor knapp über 20 Jahren, als ich an einem regnerischen Dienstagabend im Radio einer Sendung anläßlich des 70. Geburtstags von Martin Walser lauschte, schrieb ich folgendes Gedicht:

SELBSTMORD

Die Gleise
sahen aus
wie Gleise

Doch die Sonne
starrte mich an
wie ein blutendes Auge

tut

Meine Adern
hatten nach Öffnung
verlangt

Aber da
die Klingen
sich zierten

Bin ich zum Bahnhof gegangen

Verstand auch nur denselben

tut

Die Züge verzogen sich

Ich blieb auf der Strecke



Als ich es einige Zeit später in einem studentischen Literaturzirkel vortrug, erzielte es leider nicht die Resonanz, die ich mir erhofft hatte. Für Heiterkeit sorgte indes mein Bericht von den Umständen seiner Entstehung: Ob es da einen ursächlichen Zusammenhang gebe?

Heute wage ich durchaus den Dank: Das Gedicht mag Walser mehr verdanken, als ich damals annahm.



Ansatz Zehn: Referenz, Reverenz – oder doch nur Plattitüde?

Eine Schwierigkeit beim Schreiben einer Sonntagsrede, ob nun auf Martin Walser oder irgendjemand anderen, und selbst wenn der 90. Geburtstag auf einen Freitag fällt: Nicht in die gängige feuilletonistische Phraseologie zu verfallen. „Walser – der Balzac des deutschen Mittelstandes“ (wobei das jetzt sogar auf meinem eigenen Mist gewachsen sein dürfte!); „Alle seine Leser wurden am 24. März 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren“; „Walser-Leser sind im Vorteil“; oder ein Klassiker, den es bestimmt schon einmal gab – ob nun auf ihn, Shakespeare, Proust oder sonst wen bezogen: „Er macht uns zu Lesern unserer selbst“. Aber vielleicht sind das im besten Falle Wortspiele im Sinne des Novalis – rechte Selbstgespräche? Dann wäre die Sprache wieder ganz bei sich selbst – dann wären die Sprechenden: Sprachbegeisterte!

 

Foto:  (c) www.panoramio.com