Die Bibel ist nicht vom Himmel gefallen, Teil 1/5


Klaus Philipp Mertens


Frankfurt am Main (Weltexpresso) - In dieser Betrachtung steht die Literaturgeschichte der Bibel - das hebräische (jüdische) Alte Testament und das christliche Neue Testament - im Blickpunkt.


Bei objektiver Betrachtung lässt sich die Bibel als eine Sammlung von Erzählungen, historischen Berichten, Briefen und Biografien, Gedichten und Liedern begreifen. In ihrem ersten Teil, dem Alten Testament, spiegelt sich die Geschichte eines Volkes, der Israeliten. Die Texte der Hebräischen Bibel (des Alten Testaments) sind Ausdruck einer einzigartigen Einheit von Volk, Gottesvorstellung, kultischer Ordnung und einem Land (wo Milch und Honig fließen), das diesem Volk vom geglaubten Gott verheißen wurde. Und so beschreiben die Legenden, historischen Berichte und geistlich-religiösen Reflexionen in literarischer Weise, vielfach unvollendet und inhaltlich disparat, ein Paradoxon. Eines, das von Erinnerungen an die Zukunft geprägt ist, die sich aus einer erhofften, lediglich in Sagen, Gleichnissen und Glaubenszeugnissen belegten Vergangenheit speisen. Über einen Zeitraum von über eintausend Jahren wurde an dieser Zukunftshoffnung, die gleichzeitig historische Ereignisse legitimieren soll, durch alle Zeitläufte (Staatswerdung Israels, Trennung der Reiche, Eroberungen durch fremde Mächte) festgehalten. Dies sowohl durch hinzugefügte Schriften als auch durch die Bearbeitung älterer, insbesondere durch die schriftlichen Erfassung bislang lediglich mündlich vorhandener Überlieferungen.


Das Neue Testament hingegen ist in weniger als einhundert Jahren entstanden. Es greift den Gottesgedanken des Judentums auf, konkretisiert die Erlösergestalt des Messias (Maschiach, der gesalbte geistliche und weltliche Befreier) durch die Person Jesus, wobei der Anbruch des Gottesreiches von einer deutlichen Naherwartung geprägt ist. Und es belebt die Hoffnung auf eine lebensähnliche Existenz nach dem Tod, die im Judentum nicht so konkret anzutreffen ist.

 
Die Bibel erfüllt sämtliche Kriterien, die man üblicherweise an Literatur stellt. Und sie weist sogar eine eigene Literaturgeschichte auf. Denn sie ist nicht vom Himmel gefallen. Eine Vielzahl von Autoren und Bearbeitern haben zu diesem Werk aus 79 Einzelbüchern beigetragen (unter Berücksichtigung der alttestamentlichen Apokryphen und Pseudepigraphen, auf welche die Luther-Bibel verzichtet und darum lediglich 66 Einzelschriften zählt). Und regelmäßig stößt der Leser auf Widersprüche in den Aussagen über die Schöpfung der Welt, über das Gottesbild, über ethische Maßstäbe, über die gesellschaftliche Ordnung oder über die Zukunft des Menschen.

 
Zwar haben nachbiblisches Judentum und christliche Theologen vergangener Jahrhunderte durch die „Inspirationslehre" behauptet, dass die Bibel vom Heiligen Geist oder einem Engel den Propheten und Evangelisten wortwörtlich in die Feder diktiert sei (wie es mittelalterliche Buchmalerei in naiver Anschaulichkeit darstellt); die historisch-kritische Forschung hat uns aber eines anderen belehrt. Sie hat nicht nur den langwierigen Werdegang der einzelnen Schriften erforscht, sondern zugleich aufgedeckt, dass diese Inspirationslehre keineswegs dem Selbstverständnis der ursprünglichen biblischen Autoren entsprochen haben kann.

 
Um die biblischen Verfasser verstehen zu können, sollte man sie als Interpreten bestimmter geschichtlicher und religiöser Vorgänge und Zusammenhänge begreifen.

 
So muss man sich mit dem Umstand vertraut machen, dass weder das historische Judentum noch das Urchristentum den Begriff des „geistigen Eigentums" kannten oder auf „literarische Originalität" achteten. Verfassername und Entstehungszeit einer Schrift sind oft nicht vermerkt und nur indirekt aus der äußeren Form, den historischen Bezügen und zeitlichen Sprachgewohnheiten zu erschließen. Spätere Abschreiber und Überlieferer haben es für ihre Pflicht gehalten, den Bedürfnissen ihrer Zeit entsprechend Erklärungen und Verbesserungen einzufügen, um das von Ihnen jeweils anders, weil neu verstandene „göttliche Wort" zu aktualisieren.

 
Bisweilen lassen sich die Spuren einer jahrhundertelangen Bearbeitung verfolgen. Von den frühen Büchern des Alten wie von den Evangelien des Neuen Testaments ist uns jedoch keines in der Urform überliefert. Umfangreiche Bücher sind in mehrere kleine zerlegt, umgekehrt kleinere Schriften unterschiedlicher Herkunft zu einem größeren zusammengefasst worden. Wer die Bibel zunächst als Literatur begreift, wird sie deswegen chronologisch entsprechend ihrem Entstehen lesen und eine Lektüre gemäß dem heutigen Kanon zurückstellen. Kanon meint die später vorgenommene, heilsgeschichtlich motivierten Ordnung durch das Judentum (das geschah erst um das Jahr 100 n.Chr., also nach der Zerstörung des 2. Tempels durch die Römer im Jahr 70) und das Christentum (letzteres um das Jahr 400).

Fortsetzung folgt

 

Foto:  Bibel, Genesis (c) Bibelgersellschaft

Info:

Es folgen die Teile:

Das Buch von der Thronnachfolge Davids (Die Bibel ist nicht vom Himmel gefallen, 2)

Erinnerte Zukunft und erhoffte Vergangenheit (Die Bibel ist nicht vom Himmel gefallen, 3)

Zwischen Messias-Hoffnung und Blutopfer - das Neue Testament (Die Bibel ist nicht vom Himmel gefallen, 4)

"Sie werden lachen, die Bibel". Die Rezeption biblischer Schriften in der neueren Literatur (Die Bibel ist nicht vom Himmel gefallen, 5)