Sonntag, 9. Juli 2017
22 Uhr
Athener Konservatorium (Odeion), Athen
Weltpremiere mit einer Einführung von Pierre Bal-Blanc, Kurator der documenta 14

Dienstag, 11. Juli 2017
19:30 Uhr
Tofufabrik, Kassel

Wir haben nicht viel Zeit, also werden wir das Vorspiel überspringen müssen. Einige von Ihnen werden dafür vielleicht ihre Skepsis unterdrücken müssen, doch seien Sie bitte offen für die folgenden beiden Prämissen.

Erstens, es ist unmoralisch, Kinder zu haben. Zweitens, Familien machen die Demokratie unmöglich.

Wir leben in einer Zeit, in der sich die vorherrschenden Bestrebungen der LGBT-Community zunehmend auf Themen der Familie, der Ehe, der Aufzucht und des Militärdienstes richten. Die kulturellen Bedingungen für soziale Analysen und die Organisation rund um diese Fragen verlangen die aggressive Kapitulation insbesondere vor westlich-humanistischen Vorstellungen der Kernfamilie sowie des privaten und öffentlichen Raums. Infolgedessen werden feministische und queere kritische Zurückweisungen von Familienstrukturen immer seltener. Die Fähigkeit, Missbräuche in der Familie und häusliche Gewalt als Symptome umfassenderer institutionalisierter Herrschaftsverhältnisse zu begreifen, wird so gut wie unmöglich.

Auf stereotyp-vertraute und heteronormative Weise ist das antizipierte Versprechen hinter den queeren Familien von heute nichts weiter als die egozentrische Vorstellung, dass familiärer Missbrauch dadurch gelöst werde, dass diese Generation bessere Eltern hervorbringe als die vorangegangene. Es finden jedoch keinerlei Diskussionen darüber statt, was es bedeutet, sich bewusst gegen die Elternschaft zu entscheiden. Dies bleibt ebenso sehr ein Tabu wie die Vorstellung, die Befreiung durch eine Abtreibung zu feiern. In Deproduction, einem Multi-Media-Projekt mit Sound, Text und Video, untersucht Terre Thaemlitz die unbehagliche, unbequeme und scheinheilige Machtdynamik, die hinter den westlich-humanistischen Vorstellungen der Familie steht, und wie sie durch die Prozesse der Globalisierung auch international funktioniert.

In ästhetischer Hinsicht ist Deproduction eine Fortsetzung von Thaemlitz’ Arbeit mit elektroakustischer Audioproduktion, Texten, Bildern, „nicht-performativen“ Performances und Konzerten sowie Videoarbeiten, die auf Kollagen basieren und die die Sprachen des Dokumentarischen/der Kulturanalyse/der Oral History/der persönlicher Erzählung durchkreuzen/kombinieren. Die Arbeit soll in verschiedensten Kontexten präsentiert werden, etwa als Galerieinstallation, Performance, Lesung, Konzert und Multi-Media-Veröffentlichung.

Klanglich verbindet sich die Arbeit am ehesten mit Traditionen der elektroakustischen Audioproduktion, der Konkreten Musik und des Ambient, indem Klänge von Außenaufnahmen und gefundenen Samples digital bearbeitet werden. Die Beziehung zwischen diesen Audiogenres, die den peripheren Klang vor eine zentralisierte Melodie stellen und eine kulturelle kritische Praxis ausüben, wird in Jacques Attalis bekanntem Zitat aus Bruits. Essai sur l’économie politique de la musique  zusammengefasst: „Die Ordnung [der Musik] simuliert die soziale Ordnung, und ihre Dissonanzen bringen Marginalitäten zum Ausdruck.“ Die Live-Performance umfasst einen Vortrag, eine Audio/Video-Präsentation und eine Diskussion mit dem Publikum. Diese Performance-Strategie wurde im Laufe von zwei Jahrzehnten entwickelt, um bewusst die typischen Unterhaltungserwartungen vonseiten der Kuratoren ebenso wie des Publikums zu unterlaufen.

In früheren Arbeiten stellte Thaemlitz die Hypothese auf, dass wir momentan das historische Ende demokratisch verfasster gesellschaftlicher Projekte erleben. Die Annahme aus der Zeit des Kalten Krieges, dass Kapitalismus und Demokratie wesentlich miteinander verbunden seien, gehört der Vergangenheit an. Der Kapitalismus funktioniert mit Sklaverei besser als durch Gleichberechtigung in der Arbeit, wie es die westliche Geschichte der Sklaverei selbst ebenso wie die heutige Ausbreitung kapitalistischer Geschäftspraktiken in nichtdemokratische Länder beweist. Diese Verbreitung des Kapitalismus geht einher mit dem völligen Fehlen von Neugründungen demokratischer Nationen. Derweil wurden die traditionellen Feinde des Staates und der Nation größtenteils ersetzt durch die Feinde des Stammes und des Glaubens. All dies zieht eine Neueinschreibung der Macht der Familie, der Dynastie und des Geburtsrechts nach sich.

In demokratischen Nationen spiegelt sich dies darin wider, dass vom Gesetzgeber erlassene LGBT-Rechte üblicherweise auf dem essentialistischen Argument fundieren, dass sexuelle und Genderorientierung eine Frage der biologischen Prädetermination seien. Wie die Aristokraten aus früheren Zeiten befinden wir uns heute in der Situation, unsere Forderung von Rechten durch das Blut in unseren Adern zu legitimieren. In transsexuellen Gemeinschaften geht diese Forderung von Rechten – einschließlich des Rechts auf Zugang zu medizinischer Versorgung – oft Hand in Hand mit einer formellen Diagnose der Geschlechtsidentitätsstörung (GID). Die Selbstidentifikation mit dem Psychotischen und Kranken wird zu einem Ritual der kulturellen Initiation und der Akzeptanz. Sie wird auch zum Schlüssel für kulturellen Impuls und Normalisierung.

Für Thaemlitz geht dieses Verhältnis zwischen kulturellem Impuls und Psychose in Transgender-Gemeinschaften einher mit einem globalen Bewusstsein für die Eigenartigkeit der westlich-humanistischen Werte, insbesondere im Hinblick auf deren offensichtlichen Gegensatz zu konventionellen stammesbasierten und erweiterten Familienstrukturen – trotz der neurotischen Verleugnung und Blindheit gegenüber diesen Widersprüchen im Westen. Darüber hinaus finden sich Parallelen zwischen den kulturellen und antifeministischen Kompromissen, die von der Gender-Umwandlung als Akt der Gender-Konformität unter dem Patriarchat erfordert werden, und den kulturellen und antidemokratischen Kompromissen, die von der kapitalistischen Expansion erfordert werden. Die Zensur einer radikalen Queerness ist verflochten mit der Zensur einer demokratischen Organisation, sowohl innerhalb der Grenzen des Westens wie außerhalb. Und im Zentrum beider Fragen steht die Familie als sanktionierter kultureller Ort des sexuellen Ausdrucks, der Aufzucht, der Fortführung der Gemeinschaft und der Fortführung des Selbst.

Deproduction untersucht die Spannungen zwischen kultureller Produktion und biologischer Reproduktion und präsentiert eine kulturelle Verteidigung jener, die sich gegen die Reproduktion entscheiden. Diese Analysen basieren auf Thaemlitz’ eigenem Engagement für Nicht-Essentialismus, pansexuelle Queerness und nicht-umwandelnden Transgenderismus. Von Japan aus, wo Thaemlitz dauerhaft lebt und ihr Atelier hat, entwickelt sie dieses Projekt, das 2017 mit Unterstützung der documenta 14 in Athen uraufgeführt wird.

Hintergrund

Terre Thaemlitz (1968) ist eine vielfach ausgezeichnete Multimedia-Produzentin, Schriftstellerin, Rednerin, Pädagogin, Audio-Remixerin, DJane und Inhaberin des Plattenlabels comatonse recordings. Ihre Arbeit kombiniert einen kritischen Blick auf die Identitätspolitik – einschließlich Gender, Sexualität, Klasse, Sprache und Ethnie – mit einer andauernden Analyse der sozioökonomischen Bedingungen der kommerziellen Medienproduktion. Sie hat über fünfzehn Solo-Alben sowie zahlreiche Maxi-Singles und Videoarbeiten veröffentlicht. Ihre Texte über Musik und Kultur wurden international in einer Reihe von Büchern, akademischen Zeitschriften und Magazinen veröffentlicht. Als Rednerin und Pädagogin zu Fragen des nicht-essentialistischen Transgenderismus und Queerness hat Thaemlitz in Europa und Japan Vorträge gehalten und an Podiumsdiskussionen teilgenommen. Seit Januar 2001 lebt Thaemlitz in Kawasaki, Japan.

Im Auftrag der documenta 14, koproduziert mit der Akademie der Künste der Welt, Köln, und comatonse recordings.

Akademie der Künste der Welt, Köln
13. Juli 2017, 21 Uhr
Ort: Christuskirche, Dorothee-Sölle-Platz 1, 50672 Köln

Foto: Terre Thaemlitz, Deproduction, 2017, video still © documenta

Info: 
www.academycologne.org/de/article/1107_deproduction