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„Die Arbeiten könnte man tanzen“, sagte eine Besucherin in der sehr gut besuchten Vernissage über die Plastiken Litwinows. Es sind figurative Gebilde aus Fundstücken, die meist in Bewegung sind: Eine Figur scheint sich aus ihrem einengenden Rahmen befreien zu wollen. „Ich will frei tanzen“, lautet der Titel. Eine weitere ist „Auf dem Sprung zum Sieg“, die „Kreatur“ wirkt sehr fremdartig, sie ist eben „Die Andere“.

Die Werke in der zweiten Ausstellung in den neuen Räumen sind nicht im klassischen Sinn „schön“: Schreiers schwarz-weiße Fotos zeigen „Die Anderen“ - Menschen am Rande der Gesellschaft. Die Gestalten Litwinows sind keine feinen, gefälligen Püppchen, sondern rohe Objekte mit rauen rostigen Oberflächen aus weiterbearbeitetem Schrott. Die figürlichen Skulpturen stehen meist auf einem „Bein“ und scheinen dadurch im Aufbruch, sie wirken, als seien sie im Laufen oder Tanzen erstarrt. Doch sie sind so stark abstrahiert, dass sie auf ihre puren ausdrucksvollen Haltungen reduziert sind.

Wertlose Materialien haben erst Einzug in die Kunst gehalten, als sich die Künstler zum Beginn des 20. Jahrhunderts auf „das Meer des nie Geahnten wagten.“ Doch erstaunlicherweise hatte bereits Vincent van Gogh viele Jahre vorher geschrieben: „Heute bin ich mal auf dem Fleck gewesen, wo die Aschmänner den Müll hinbringen. Donnerwetter, war das schön.“ Auch Litwinow war als junger Mann fasziniert von Schrottplätzen - „die waren für mich die Welt“ - und sah in den weggeworfenen Dingen Fantastisches.

Wenn er heutzutage Schrott entdeckt, hat er sofort Ideen für die Weitergestaltung der Fundstücke. Während der Metallbildhauer Ulrich Barnickel industriell oder selbstgefertigte Metallteile zusammenschweißt, arbeitet Litwinow ausschließlich mit aufgespürten und weiterbearbeiteten Dingen. Vor der Gestaltung fertigt der Fuldaer Metallbildhauer Skizzen an. Als Architekt und Grafiker kann er sich gut Gebilde im Raum vorstellen und seine Ideen präzise zeichnerisch darstellen.

Es reizt ihn, schweres Metall in seinen Skulpturen „lebendig und leicht zu machen.“ Einerseits schafft er das durch die wenig massive Bearbeitung der Stücke: Die Objekte sind oft hohl und luftig miteinander montiert, des Weiteren werden sie durch die vermeintliche Bewegung sehr leichtfüßig.

Die entstehenden Plastiken sind nicht immer reine Fantasiegespinste, sondern oft sehr persönlich. Den „Ikarus“, der gerade loszufliegen scheint, bringt er mit seinem Abschied vor vielen Jahrzehnten aus Kasachstan in Verbindung. Es war für ihn und seine Frau nicht einfach, die Heimat loszulassen. Aber diese, den Gestaltungen zugrunde liegenden Gefühle sind in den Werken im doppelten Sinne aufgehoben: Sie sind verschwunden und nicht mehr sichtbar, doch sie sind als etwas Allgemeines fühlbar und berühren die Betrachter. Übrigens kann der Künstler auch humorvoll sein, im Kaminzimmer sitzt (!) ein weiblich anmutendes Rostobjekt mit teils blau emaillierten Röhrenbeinen: Das „Mädchen mit blauen Strümpfen“.

Skulpturen und Bilder ergänzen sich hervorragend in dieser gut kuratierten Ausstellung - sowohl einander als auch mit den Räumen des Kunstverein. Am 10. Juni wird Fotokünstler Wolfgang Schreier dort seine Werke vorstellen (siehe INFO). Danach werden wir ausführlich über seine Fotografien berichten.

Foto:
Alexander Litwinow erläutert seine beeindruckenden Skulpturen 
Info: 
Öffnungszeiten der Ausstellung noch bis zum 24. Juni 2018, Donnerstag - Sonntag 15 - 18 Uhr
Kunstverein Habsburgergasse 2 in Fulda


Sonntag, 10. Juni, 16 Uhr „Fulda, Auschwitz und zurück“: Öffentliches Galeriegespräch mit Zeitzeugen der 1960er Jahre u. a. mit dem früheren Fuldaer Oberbürgermeister Dr. Wolfgang Hamberger, Mitarbeitern eines Projekts der Fachhochschule für die Kinder der Obdachlosen-Siedlung „Sandhohle“ und mit  Nachfahren der 1943 deportierten Fuldaer Sinti.

FOTO Hanswerner Kruse: