kurtjungBerührende Tagebuchnotizen aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) . Vorbemerkung der Redaktion: Nachdem Kurt Nelhiebel 1945 als siebzehnjähriger Soldat aus dem Krieg  in seine Heimat am Fuße des Riesengebirges zurückgekehrt war, vertraute er seine Alltagserlebnisse und Empfindungen einem Tagebuch an. Seine Notizen sind historisch unschätzbare Zeugnissen einer vergessenen Zeit. Zu lesen, was den  Sohn eines sudetendeutschen Antifaschisten zu Ostern 1946  vor seiner Vertreibung bewegte, ist zutiefst berührend. Hier ein Auszug:

Was schreibe ich da alles zusammen! Wenn ich mit jemandem über all diese Dinge reden könnte, würde ich es sein lassen. Es ist meine schönste Beschäftigung, seit Christl fort ist. Wüsste ich doch, wo sie ist. Dann könnte ich den Wolken Grüße mitgeben. Sieben Monate haben wir uns gekannt. „Fühle Dich ganz frei und ungebunden“, schrieb sie in ihrem letzten Brief.

Ostern.

Die Natur feiert Auferstehung. Nicht die Auferstehung vom Tod. Aus dem Tod gibt kein Erwachen. Aus einem tiefen Schlaf der Erschöpfung erwacht die Natur. Die Saaten grünen. Wieder zieht der Bauer eine Furche neben die andere. Wie aufgefädelte Perlen glänzen die frisch aufgeworfenen Schollen in der Sonne. Tief versinken die Pferdehufe im lockeren Boden. Leise knirscht das Lederzeug und die Metallbeschläge des Geschirrs blitzen in der Sonne. An den Birken schimmern die ersten grünen Spitzen und ein Hauch von Grün liegt über den Kronen der Lärchen. Kraftvoll platzen die Blattknospen der Buchen. Ein Dehnen und Strecken geht durch die Natur. Alles reckt sich zum Licht. Auch die Menschen leben auf unter der wärmenden Sonne.

Der Winter ist vorüber. Nur aus der Ferne grüßen noch die schneebedeckten Kuppen des Riesengebirges. Bäche springen über Steine und Wurzeln und erzählen von der Reise durch dunkle Wälder und grünende Wiesen. Die Liebe zur Heimat erfasst mich mit unbändiger Kraft. Zugleich verspüre ich eine unendliche Sehnsucht nach der Ferne. Fernweh und Heimweh – beide können schmerzen.

Osterspaziergang ins Ziegengestein mit Lois. Von den Felsklippen ganz oben geht der Blick weit über die friedliche Landschaft. Aus dem Tal grüßt die Aupa. Wie Teile aus einer Spielzeugschachtel liegen verstreut Häuser zwischen Wiesen und Bäumen. Zum Gebirge hinauf sehen wir. Der Hochwiesenberg strahlt in silbernem Weiß, und daneben erhebt die Schneekoppe, die „ale Kaake“, wie der Volksmund sie nennt, ihr würdiges Haupt. Heimat – teure Heimat, dein Bild wird mich immer begleiten.

Am Nachmittag mit Lois zum österlichen Hochamt in Markausch. Über eine steile Treppe steige ich hinauf in den Kirchturm und verweile neben der alten Uhr, deren gewaltiges Pendel bedächtig hin und her geht. Rasch eile ich dann nach unten zur Empore neben der Orgel. Ich soll den Blasebalg treten. Aber auch das will gelernt sein. Als der Organist in die Tasten greift, gibt die Orgel nur zitternde klagende Töne von sich. Mir wird bedeutet, das Pedal rascher und fester zu treten. Schließlich braust die Orgel wie gewohnt durch das weihrauchgeschwängerte Innere der Kirche. Gläubigen Herzens schicken die Menschen ihre Gebete zum wieder auferstandenen Heiland. Hoffen auf Erlösung. Die Kirchenglocken läuten.

Meine Gedanken wandern zurück. Ein Jahr ist es her, seit ich in Berlin das Grauen des Krieges erlebte ... Ob meine Aufzeichnungen einen Sinn haben? Vielleicht erzähle ich zu wenig von meinem Tagesablauf. Vom Schotterbrecher bin ich weg; arbeite jetzt für drei tschechische Maurer als Handlanger. Die Arbeit ist nicht so schwer wie am Schotterbrecher ...Ein Transport nach dem anderen verlässt Trübenwasser. Jedes Mal müssen 1200 Menschen fort aus der Heimat, die ihnen fremd geworden ist. Bis hinunter zur Sprachgrenze stehen Verwandte und Freunde mit weißen Tüchern an der Strecke, um den Ausgesiedelten noch einmal zuzuwinken ...

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Der Verfasser als 17Jähriger
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Info:
Aus „Im Wirrwarr der Meinungen- - Zwei deutsche Antifaschisten und ihre Stimmen“,  Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2013