Drucken
Kategorie: Lust und Leben
Annette 5174Jahre nach der Flucht (6)

Hanswerner Kruse und Clas Röhl

Sinntal / Osthessen (welktexpresso) - Wenn sich geflüchtete Menschen „Jahre nach der Flucht“ bei uns erfolgreich integrieren, dann liegt das auch an ihren ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern. Annette Hölzer (48) aus Sinntal ist so eine Fluchthelferin, eine „Integrationslotsin“, wie sie vom Main-Kinzig-Kreis genannt und fortgebildet werden.


„Die Bilder von den zerstörten Städten und das Elend der flüchtenden Menschen hat mich damals sehr berührt“, erinnert sich Annette Hölzer an das Jahr 2015. „Uns geht es so gut hier, ich wollte irgendwie helfen.“ Über die Pfarrerin bekam sie kurzzeitig Kontakt mit einer syrischen Familie, die aus Damaskus fliehen musste. „Das war anfangs ein komisches Gefühl“, bekennt sie, „ich habe mich hilflos gefühlt, denn wir konnten uns ja kaum verständigen.“ Dennoch erfuhr sie später, dass diese erste, vielleicht unzureichende Begegnung, für die Familie damals sehr wichtig war.

Beim Kreis erlangte sie in den nächsten Monaten an einigen Wochenenden eine Basisqualifikation und qualifizierte sich dadurch als Lotsin. Hauptsächlich betreute sie in den folgenden Jahren syrische Menschen: Sie unterstützte die Geflüchteten bei Anmeldungen und Besuchen im Flüchtlingsamt oder Jobcenter. Sie half beim Ausfüllen vieler Formulare, begleitete die Menschen bei Arztbesuchen oder Elterngesprächen in Kita und Schule. Auch zu Sportvereinen stellte sie Kontakte her, beriet manche bei der zukünftigen Berufswahl. Für Moaaz, den wir hier vor kurzem vorstellten, vermittelte sie die Berufsausbildung bei der Sinntaler Firma Plastic Omnium.

Drei Jahre lang kümmerte sie sich intensiv um geflüchtete Menschen, ein wichtiges Problem war die professionelle Abgrenzung: „Meine Handynummer konnte ich nicht weitergeben, sonst wäre ich Tag und Nach angerufen worden.“ Manchmal gab es auch Stress in den betreuten Familien, etwa einmal zwischen Stiefvater und Stiefsohn: „Das war aber auch schwierig, weil die Menschen auf engem Raum zusammenlebten, sich in einem fremden Land zurechtfinden mussten und die Verkehrsverbindungen schwierig waren.“

Mittlerweile arbeitet Annette Hölzer im medizinischen Pflegedienst und ist nur noch sporadisch als Integrationslotsin tätig. Sie ist eine durch und durch soziale Frau: Nach der Ausbildung als Arzthelferin arbeitete sie lange immer wieder in diesem Beruf, später qualifizierte sie sich als Krankenpflegekraft weiter. Neben ihren drei Kindern zieht sie auch zwei Pflegekinder groß, dazu brauchte sie ebenfalls eine zusätzliche Fortbildung. „Pflegekinder sind toll und faszinierend!“, meint sie, „aber es ist heftig, was die armen Kinder vorher mitmachen mussten.“

Ihre Eltern waren sehr christlich und die Oma war Krankenschwester, die beiden Brüder wurden Fachkrankenpfleger oder Sozialpädagoge. Der Cousin ihrer Mutter ist mit einer peruanischen Frau verheiratet. Als Kind war sie von ihm total fasziniert, weil er ferne Länder bereiste, fremde Kulturen erlebte und exotisch kochen konnte. „Er zeigte uns Filme, brachte Souvenirs mit und eröffnete uns einen weiten Blick auf die Welt.“

Sicherlich wurden in dieser Zeit die Wurzeln für ihre Offenheit gelegt. Sie hatte wenig Berührungsängste vor geflüchteten Menschen: „Die waren manchmal schon ein bisschen anders, aber es waren immer nette, freundliche Menschen mit großer Gastfreundschaft.“ Probleme oder Konflikte hatte sie in ihrer Sinntaler Nachbarschaft wegen ihrer Flüchtlingsarbeit bisher übrigens nicht. Im Gegenteil, die Leute spenden immer wieder mal etwas für die Geflüchteten. Hölzer hat trotz ihres sozialen Engagements noch Zeit für kreative Hobbies wie Seidenmalerei oder Schmuckgestaltung.

Was sind Integrationslotsen*innen?
Im Gespräch mit Clas Röhl und Annette Hölzer

In den letzten zehn Jahren ermöglichte der Main-Kinzig-Kreis 150 Personen eine kleine, offizielle Qualifizierung als Lotse und Lotsin. Sie helfen geflüchteten Menschen bei der „Lösung konkreter Aufgaben“, sollen aber „keine langfristige Begleitung“ übernehmen; das Ziel ihrer Unterstützung ist die „Hilfe zur Selbsthilfe.“ Mehr als Zweidrittel von ihnen sind Frauen, ein Viertel selber Migranten.

Clas Röhl (67) unterstützt seit vielen Jahren geflüchtete Menschen im Bergwinkel, unter anderem gibt er Deutschkurse. „Ich bin quasi Integrationslotse ohne Ausbildung“, sagt er im Gespräch, „natürlich brauchen Helfende nicht unbedingt diese Qualifizierung.“ Kritisch merkt er zudem an, dass es noch reichlich geflüchtete Menschen gebe, die große Probleme haben und denen die Integration schwerfalle. „Und Integration ist keine Einbahnstraße“, merkt er an. „Es liegt auch an uns, die Integration zu fördern und vor allem zu bejahen. Auch wir müssen uns ‚integrieren’. Eine nicht nur ehrenamtliche Unterstützung, auch hier im Bergwinkel, ist notwendig wie eh und je, selbst wenn das Flüchtlingsthema nicht mehr so stark im Mittelpunkt steht!“

Auf die Frage nach einfacher Hilfe, etwa durch Patenschaften, meint Annette Hölzer: „Wenn jeder interessierte Helfer eine Familie an die Hand nimmt, ist es für alle einfacher und für die Deutschen eine Bereicherung. Aber die Berührungsängste sind groß, die Leute fragen mich, wie soll ich denn mit denen umgehen? Denn die Fremden sind ja manchmal wirklich fremd und die Unterschiede zu uns sind groß... Aber in den Momenten, wo wir uns als Menschen einfach begegnen, springt was über.“

Weitere Informationen:
„Büro für interkulturelle Angelegenheiten“ des Main-Kinzig-Kreises

Foto:
Hanswerner Kruse

Weitere Berichte "Jahre nach der Flucht":
Hanin
Aiyana D.
Soheila
Jamsheed
Mooaz