Bildschirmfoto 2020 12 09 um 00.51.07Was Isolation, auch zölibatäre, mit Menschen so macht

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso)  - Heißen Herzens hat Claudia Schulmerich dieser Tage den slowenischen Philosophen Slavoj Žižek als den klügsten Mann bezeichnet, der ihr je persönlich begegnet ist. So eine Eloge erlaubt keinen Widerspruch, wohl aber einen Einwurf mit beschränkter Haftung sozusagen. Ich habe von und über Žižek das eine oder andere gelesen, finde ihn grundsätzlich auch nicht schlecht, kann ihm aber nicht folgen in seiner Sehnsucht nach „authentischer Isolation“. Das ist Schicki-Micki-Kram. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Was passieren kann, wenn sich jemand aus religiösen oder sonstigen Gründen zur Einsamkeit und ständiger Selbstkasteiung zwingt,  führen uns die Skandale im Gefolge des Zölibats bis zum Überdruss vor Augen. Dieses Dogma, entsprungen der unchristlichen Gier nach Geld und weltlicher Macht, ist genauso ein Verbrechen, wie das klerikale Nein zur Gleichberechtigung der Frauen.

Für eine Rundfunksendung habe ich vor Jahren ein langes Gespräch mit einem inzwischen verstorbenen Widerstandskämpfer geführt, der von den Nazis zu 15 Jahren Einzelhaft und fünf Jahren Sprechverbot verurteilt worden ist. Seiner Schilderung nach war er nach einer gewissen Zeit nahe daran, in der Isolation den Verstand zu verlieren, bis er bei Goethes "Faust" Halt fand. Um zu überleben, habe er angefangen, ganze Passagen auswendig zu lernen. Mir läuft es noch heute kalt über den Rücken, wenn ich ihn deklamieren höre: „In Lebensfluten, im Tatensturm / wall ich auf und ab, / webe hin und her! Geburt und Grab, ein ewiges Meer ...“

Ich kann mir denken, was Žižek mit seiner authentischen Isolation meint. Ich habe es auch nicht gern, wenn mich jemand aus meiner Gedankenwelt reißt. Aber da befinde ich mich in einer von mir selbst gewollten Situation.  Die Isolation im Gefolge der Corona-Pandemie ist etwas anderes, etwas, das es in dieser Form noch nie gegeben hat  Sie entspringt nicht staatlicher Willkür, sondern einer Notwendigkeit, der sich ehrlicher Weise niemand verschließen kann. Manche "Querdenker" kriegen das leider nicht auf die Reihe. Um ihrem Frust ein Ventil zu verschaffen, machen sie sich mit Leuten gemein, die neben dem Corona-Virus die Sehnsucht nach dem "starken Mann" im Kopf haben,  der ihnen einen Teil ihrer Sorgen abnimmt.

Vergleiche mit Weimar bieten sich an, aber sie hinken  Natürlich sind  Friede, Freude, Eierkuchen nicht auf ewig gesichert. Noch lehnt das Führungspersonal der CDU/CSU ein Zusammengehen mit der "Vogelschiss"- Partei des einstigen CDU-Chefs der hessischen Staatskanzlei, Alexander Gauland, ab. Aber irgendetwas scheint zu bröckeln, wie die  Vorgänge in Thüringen und jetzt in Sachsen-Anhalt zeigen. Dass ein Teil der dortigen CDU-Landtagsfraktion samt dem inzwischen geschassten Innenminister Stahlknecht nichts dabei fände, sich von der AfD an der Macht halten zu lassen, verheißt nichts Gutes. Dabei sind noch längst nicht alle Ratten aus den Löchern gekommen. Wenn sich die heimlichen Verbündeten der AfD erst einmal sicher genug fühlen, ohne Ansehensverlust die Fronten wechseln zu können, würde wahrscheinlich auch so mancher akademische Klugscheißer die Fronten wechseln und Andersdenkenden bedenkenlos den Lackschuh ins Genick setzen.

So weit weg ist Weimar dann doch nicht, als dass man vergessen könnte, wie schnell die Demokratie damals unter die Räder kam. Je länger die Corona-Pandemie Tun und Lassen von Millionen Menschen bestimmt und sie von anderen, nicht weniger wichtigen Dingen abhält, desto schneller potenziert sich das Risiko eines Abgleitens der Demokratie in eine gefährliche und von den Meisten ungewollte Richtung. Und selbst die schönste authentische Isolation könnte in einer total vernetzten Welt nichts daran ändern.

Foto:
Cover
Ärger im Paradies – Vom Ende der Geschichte zum Ende des Kapitalismus (Deutsch) Taschenbuch – 28. Juli 2016 von Slavoj Žižek) 

Info:
Zum Hintergrund:
Leider können wir das Interview der Frankfurter Rundschau mit Slavoj Žižek von letzter Woche nicht einfach nachdrucken. Dann würde klar, daß die ihm in Worten zugeschriebene Äußerung "authentischer Isolation" zum Verständnis den Kontext brauchen. Dringend brauchen. Denn er sprach über die Diskrepanz, daß jetzt  bei Quarantäne zwar personale Distanz herrsche, man aber in der Wohnung nicht richtig allein sei, weil das Thema Corona aus allen Ritzen komme, er ständig am Rechner hängt, dauernd Emails schreibt und liest, ständig beschäftigt damit ist, wie es den Freunden geht, Anrufe hin und her,  demgebenüber er nach einer authentischen  Isolation Sehnsucht entwickle,wo man wirklich allein sei, mit seinen eigenen Gedanken...so etwa, das ist von mir, wie man sich auf einer Alm ganz oben in den Bergen fühlt, wenn nur der Himmel über einem ist - und die Kühe auf der Weide, frei in seinen Gedanken. Alles klar? Also ein richtiges Mißverständnis, aber der Artikel unseres Kollegen ist trotzdem schön. C.S.