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Kategorie: Lust und Leben
Wenn Distanz über Bord gehen muss - Teil 2/3
 
Klaus Jürgen Schmidt

Nienburg/Weser (Weltexpresso) – 1980: Wir treffen 10 Menschen, die es von den "Killing Fields" Pol Pots nach wochenlangem Treiben auf dem Mekong bis ans Ufer von Phnom Penh geschafft haben. Mein Freun Michael Geyer hat die Aufgabe an der Filmkamera übernommen, aber beide sprechen wir nachts auf Tonband, was uns bewegt. Unsere Anwesenheit auf dem Floß soll unsere Gastgeber nicht irritieren. Das haben wir ihnen klarzumachen versucht. ...


"Teilnehmende Beobachtung" auf dem Mekong-Wasser, denke ich, Soziologie-Seminare tauchen in der Erinnerung auf. Von Kambodscha wusste ich damals nichts. Das war lange, bevor Johnson seinen GI’s den Befehl zum Einmarsch nach Kambodscha gab. Mekong – das war nur eine Vokabel aus dem Vietnam-Krieg. Nachrichten-Sprache ...Unsere teilnehmende Beobachtung wird akzeptiert. Wir haben wirklich den Eindruck, dass sie uns nicht beachten. Wenn nach einer längeren Zeit eine gastfreundliche Geste kommt, dann ist das keine Inszenierung. Jemand hat von einem Bogen Reispapier ein Stück abgerissen, um sich eine Zigarette zu drehen. Das Papier wird weitergereicht, auch uns. Später schöpfen sie Wasser aus dem Fluss. Im großen Topf wird abgekocht. Vom Markt sind einige Eisstücke besorgt worden. Die Schale mit dem gekühlten Wasser geht von Hand zu Hand. Sie erreicht auch uns. Wir trinken Wasser aus diesem Fluss.


Bilder aus der Tagesschau fallen mir ein, und nehme trotzdem einen vorsichtigen Schluck. Auf dem Mekong trieben Leichen, Hunderte, Tausende. Im Fernsehen enthielt der Sprechertext Mutmaßungen über Massaker der Pol Pot-Regierung. Heute ist Kampuchea das am meisten verseuchte Land der Welt, auch eine Nachricht, die mir durch den Kopf geht, sie stammt wohl von der Weltgesundheitsorganisation. ...
Wir trinken Wasser aus dem Mekong.

Genau an der Uferstelle oberhalb des Floßes beobachten wir in den nächsten Tagen Männer mit Hacken und Spaten. Aber sie räumen nicht auf, sie graben sich immer tiefer in den Boden. Es dauert eine Weile, bis wir herausfinden, was da los ist. Auf der Höhe des Königspalastes seien in den ersten Wochen nach der Machtübernahme durch Pol Pot-Soldaten im Frühjahr 1975 ganze Ladungen von Gold- und Silbergegenständen, von Edelsteinen aus den Wohnungen reicher Einwohner Phnom Penhs hier in den Fluß gekippt worden. ... Das erzählt man uns, aber wir glauben es erst, als eines Morgens der Sohn des alten Mannes vom Floß uns fünfzig Meter entfernt eine Stelle zeigt, an der er einen Diamanten zwischen den Steinen fand. Jetzt trägt er ihn im Mund unter der Zunge. Einige Tage später sind zwei weitere Edelsteine dazugekommen, und eine kleine silberne Schale hat er gefunden. Die wird mit Asche geputzt und geht von Hand zu Hand, eine kleine silberne Schale, die zusammen mit großen Mengen Gold und Silber aus Privatbesitz als Ausdruck von – ja was? von Dekadenz? von verwerflichem Materialismus? – vernichtet werden sollte, während oben im königlichen Palast nichts angerührt wurde, nicht einmal die dicken Silberplatten, die den Boden so groß wie zwei Tennisfelder in einem der vielen Tempel bedecken. Aber nicht das weggeworfene Gold im Schlamm macht uns zu schaffen – es irritiert uns nur.
 

Aus dem Boden Kampucheas werden kostbare und schreckliche Funde freigelegt, an immer mehr Plätzen im Lande, auf einem großen Feld am Stadtrand Phnom Penhs zum Beispiel – Gebeine von Hunderttausenden Opfern des Pol Pot-Regimes.

An diesem Abend berichtet der Sohn des alten Mannes vom Floß: "Ich habe damals nicht geglaubt, dass die Pol Pot-Leute so viele Menschen umbringen. Einmal in der Nacht habe ich auch wieder im Reisfeld gearbeitet zusammen mit anderen Leuten aus Phnom Penh. Wir haben auf die Leute aus dem Dorf gewartet, die uns ablösen sollten, aber niemand kam. Als wir ins Dorf zurückkamen, erfuhren wir, dass die Pol Pot-Leute gesagt hatten: Die Menschen aus Phnom Penh, die Neuen – die müssen alle weg, die müssen getötet werden. Ich bekam andere Aufgaben zugeteilt, auf dem Gemüsefeld arbeiten, im Wald auf die Wasserbüffel aufpassen – zehn Tage später kamen die vietnamesischen Truppen. Das war in der Nacht zum 1. Januar 1979 in Kratie. Der Dorfchef der Po Pot-Leute befahl alle Bewohner in den Wald. Dort gab es nur dünne Suppe zu essen, obwohl viel Reis vorhanden war. Bewaffnete Pol Pot-Soldaten versuchten, die Menschen im Wald zusammenzutreiben. Wir wussten, dass sie uns jetzt töten wollten. Deshalb lösten wir uns in kleine Gruppen auf, und es gab auch ein paar, die sagten: Wir müssen gegen die Po Pot-Leute kämpfen. Die hatten aber schon Angst bekommen und sind weggerannt. Wir sind aus dem Wald wieder ins Dorf gegangen. Leute, die aus Phnom Penh waren, machten sich dann auf den Weg nach Hause."

Fast zwei Wochen sind nun vergangen – die ersten schweren Regenfälle künden nachts den kommenden Monsun an. Wir kommen morgens zum Floß, wir finden die Zehn frierend , durchnässt, noch mehr ermattet. Wir haben inzwischen einen Kambodschaner gefunden, der uns bei der Übersetzung besser helfen kann. Victor spricht deutsch, er ist verheiratet mit einer Deutschen, die früher an der DDR-Botschaft arbeitete. Sie konnte 1975 mit dem übrigen Botschaftspersonal das Land verlassen. Victor musste vier Jahre lang vor den Po Pot-Leuten verbergen, dass er eine fremde Sprache spricht – so überlebte er in einer Arbeitskolonne auf dem Lande. Geduldig hat er unsere Fragen übersetzt, jetzt ist der Zeitpunkt, wo er selber wissen will, wie es weiter gehen soll.

Er spricht mit der alten Frau vom Floß: "Ich habe sie gefragt, ob sie noch etwas wünscht."
"Mein größter Wunsch ist, dass wir eine Wohnung bekommen und dass meine Kinder Abeit finden."
"Und wie wollt ihr euch bis dahin über Wasser halten?"
"Bis dahin verkaufen wir den Rest unseres Tabaks und das Bambusholz vom Floß."
"Was passiert, wenn das zu Ende ist und weder Wohnung noch Arbeit gefunden sind?"
"Ich weiß nicht, was wir noch machen können!... Nur die Regierung kann uns helfen ... und wenn die uns nicht hilft, dann müssen wir sterben! Dann verhungern wir!"

Für uns ist der Moment gekommen, die journalistische Distanz aufzugeben. Es wird uns unmöglich, nur noch zu fragen – es gibt keine Fragen mehr!

Einpacken jetzt? Abreisen?

Die durch das Visum begrenzte Dauer unseres Aufenthaltes ist zu Ende. Wir haben am ersten Tag des Tet-Festes, des kambodschanischen Neujahrsfestes, eine Melone gekauft und eine Ananas – als kleines Geschenk mitgebracht. Als wir am Nachmittag zum Floß zurückkehren, beobachten wir vom hohen Ufer eine Szene, die uns nicht mehr aus dem Kopf geht: Auf dem Vorderteil des Floßes ist ein kleiner Altar aufgebaut, gerade kniet die junge Mutter davor, zündet einige Räucherstäbchen an, verbeugt sich dreimal vor diesem ärmlichen Aufbau ihrer Dankesgaben. Auf einem Blechteller in der Mitte liegen unsere Ananas und unsere Melone!

Wir haben angefangen, über die zehn Menschen auf dem Floß nicht mehr bloß mit den europäischen Experten im Hotel "Samaki" zu reden. Der Chef der Presseabteilung im Außenministerium hat längst eingesehen, dass wir auf seine Rundreisepläne verzichten, hat uns machen lassen, ohne nachzufragen, was wir zwei Wochen lang da unten auf dem Floß zu bereden hatten. Jetzt entschließen wir uns, einzugreifen, was zu tun. Ein Gespräch abends in der Bar des "Samaki", Samaki – das heißt Solidarität!
Wir haben herausgefunden, dass neben der ehemaligen Wohnung im alten Haus der Marktfrau-Familie eine andere Wohnung leer steht. Chum Bun Rong, unser Kontaktmann im Außenministerium, verlängert unsere Visa, beschafft die Erlaubnis für den Bezug der Wohnung – zweifellos hat er dabei im Auge, dass wir als Journalisten zu Hause über das Entgegenkommen der Behörden berichten werden.

Für die Zehn auf dem Floß ist das an jenem Morgen egal, an dem sie ihre Bündel packen, um endlich wieder ein Zuhause zu beziehen. Aber wir müssen bald feststellen, dass die Schwierigkeiten noch nicht zu Ende sind. Auf dem Tonband halte ich die Szene fest: "Ja, schließlich ist das neue Haus erreicht, die neue Wohnung soll bezogen werden. Da stellt sich heraus, dass über Nacht eine andere Familie in diese endlich gefundene neue Wohnung eingezogen ist. – Und in diesem Augenblick ist hier eine Konfrontation im Gange – was soll geschehen mit der Familie, die soeben ihr Floß verlassen hat, die all ihre Sachen mitgenommen hat? ...

Was soll geschehen mit der Familie, die über Nacht hier eingezogen ist? – Es wird eine Diskussion werden, in diewohl oder übel das Ministerium wird einbezogen werden müssen. ..."
Chum Bun Rong wird alarmiert. Ihm gelingt es, in wenigen Stunden eine zweite Wohnung aufzutreiben – in einem Wohnblock nahe dem Markt und einer Schule, ein Haus, in dem sonst nur Lehrer-Familien wohnen. Es gibt eine Diskussion mit den Hausbewohnern.
Dann bringt eine Frau eine Schale mit kühlem Wasser als Willkommenstrunk ... ... die Zehn vom Floß sind akzeptiert. Sie haben sich entschlossen, zusammenzubleiben – der Raum ist nicht viel größer als ihr Bambusfloß, eine kleine Küche ist dabei. Was geschieht mit dem Floß jetzt da unten am Ufer?

Eine Idee hat sich schon vor Tagen bei uns festgesetzt: Wir wollen dieses Floß kaufen! Wir haben darüber schon mit Malcolm Harper von Oxfam gesprochen, er hat uns nicht ausgelacht. Auch Chum Bun Rong lacht uns nicht aus – er ebnet den Weg für den Gang durch die Behörden. Kampexim, die staatliche Import-, Export-Firma, ist zuständig für die Verhandlungen.

Oxfam streckt uns das Geld vor, das wir der Behörde zahlen – sie wird dafür eine neue Wohnung für jene herrichten, die eigentlich den Raum der Floßleute beziehen sollten. ... ... und wir tauschen einen Dollarbetrag gegen Riel, die vor wenigen Wochen neueingeführte Landeswährung. Das Geld soll ein bisschen mithelfen beim Neuanfang in dieser Stadt, die überraschend schnell zu den alten Marktmechanismen zurückgefunden hat, zu schnell und zu ungeregelt, als dass nicht schon bald mit einem rigorosen Eingriff der staatlichen Wirtschaftsplaner zu rechnen ist. Werden sich dann die Zehn vom Floß in dieser neuen Stadtgesellschaft zurechtfinden?

Am Ende der dritten Woche in Phnom Penh. Ich weiß nicht, wie oft wir schon erklärt haben, warum dieses Floß mit nach Deutschland soll. An Bord eines Schwimmkrans aus Singapore, der von UNICEF nach Phnom Penh geschickt wurde, machen wir Jonny Chin, den Captain, gerade mit dieser Idee vertraut. Er soll uns helfen. Mit dem Geschirr dieses Schwimmkrans ließe sich das Floß auf eine Barke hieven, die in wenigen Tagen leer nach Singapore zurückgeschleppt wird. Auf diese Idee hatte uns Malcolm Harper gebracht. Wir wollen seine guten Kontakte nutzen und haben ihn mit an Bord genommen. In der engen Kapitänskajüte sprechen wir die Sache durch.



Jonny Chin lacht erst einmal kräftig, als er von unseren Export-Problemen hört. Dann will er das Objekt in Augenschein nehmen. ...
Mit einem Beiboot überqueren wir den Fluss. Kurze Begutachtung des Floßes – Stabilität, Gewicht, Größe. Jonny Chin hat keine Bedenken. Er sagt OKAY. Die erste Etappe nach Singapore kann in ein, zwei Wochen geschafft sein. ...

 


Es hat dann doch noch vier Wochen gedauert, bis das Floß im Shipyard von Singapore dümpelte, auf Warteposition. Der Bremer Frachter "Trifels" von der DDG Hansa hat es im Juli an Deck genommen, auf großer Fahrt nach Rotterdam.








Das Floß aus Kampuchea schaffte es schließlich bis Bremen. Das Übersee-Museum half, einen kleinen Schlepper zu finden, der das Floß die Weser hinaufbrachte. Restauratoren des Museums reparierten, was auf der langen Reise kaputt gegangen war.
An Land stand ein Bauwagen mit einer Foto-Austellung und einem Videorecorder – der wurde eines Nachts gestohlen.


Hier lag das Floß zwei Sommermonate lang auf der Weser, festgezurrt an einem Fähren-Anleger der Innenstadt, gegenüber der DLRG-Station, der “Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft” – Vietnams Botschafter kam, um es sich anzusehen. ...Dann versuchte ein übermütiger Schwimmer, die Weser nahe der Floß-Liegestelle zweimal zu durchqueren. Er schaffte es nur anderthalb Mal. Die Rotor-Turbulenzen eines Rettungshubschraubers ließen das Palmblattdach und Teile des Floß-Inneren davonfliegen. ...


Nach zwei Jahren – abgestellt in einem Winkel des Bremer Hafens – landete das Bambusfloß auf dem Müll.
Es gab kein Geld für eine Instandsetzung und keinen Plan mehr für die Idee, das Floß als Botschaft der Menschen Indochinas über Flüsse und Kanäle zu schleppen, um daran zu erinnern, dass sie mit den Folgen jahrzehntelanger, aufgezwungener Kriege nicht alleine fertigwerden können.

http://www.radiobridge.net/videos/floss1.mpg
 

Und morgen können Sie erfahren, wie ich mich 25 Jahre später in Phnom Penh auf Spurensuche begab.


FOTOS:
© KJS / DDG Hansa

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http://www.radiobridge.net