... und was Bremen damit zu tun hatte

Klaus Jürgen Schmidt

Nienburg/Weser (Weltexpresso) – Mein Wuppertaler Verleger Hermann Schulz weiß, wie alles anfing. Im Internet erzählt er vom Besuch eines Mannes aus Bassum bei Bremen, der sich für Nicaragua interessierte. Er sei gekommen, weil er damals Ernesto Cardenals Werke verlegt habe. »Ich klagte, das Land sei heruntergekommen, es gebe kaum fahrtüchtige Boote, alles sei vernachlässigt. ..."


"... Da erzählte er mir, in Bremen sei geplant, das Fährschiff 'Gröpeln' auszumustern. So ein Ding würde man doch in Nicaragua gut brauchen können. Ich war sogleich hellwach. Man müsste Kontakt zum Bürgermeister von Bremen aufnehmen, riet Karl-Friedrich Zelter. Ich rief spontan meinen Freund Henning Scherf an – und wir brachten die Sache auf den Weg. ...«

Dass Hermann Schulz sofort Henning Scherf eingefallen war, ergab sich aus der bekannten Tatsache, dass sich die halbe Familie Scherf – inklusive Ehefrau und Tochter – persönlich in Nicaragua engagiert hatten, in Solidarität mit den dortigen Revolutionären. Dass Ernesto Cardenal von einem geplanten Schiffsgeschenk  wusste, hat der selber später dementiert.

Wie die Sache mit der »Gröpeln« auf den Weg gebracht wurde, ist im Internet so zusammengefasst:

»Die 1939 in Wischhafen gebaute 'Gröpeln' versah ab 1957 den Fährdienst zwischen Gröpelingen und 'Guntsiet', um die vielen Badegäste aus dem Bremer Westen an den feinkörnigen Sandstrand in Lankenau zu bringen. Als das Badevergnügen 1964 durch den Bau der Neustädter Containerhäfen beendet wurde, transportierte die 'Gröpeln' Arbeiter von der anderen Weserseite zur Werft AG-Weser und wurde zwischenzeitlich auch in Bremen-Blumenthal eingesetzt. Im Jahr 1982 wurde sie im Auftrag des Bremer DGB in Zusammenarbeit mit dem Bremer Senat als Zeichen der internationalen Solidarität nach Nicaragua verschenkt, um als Versorgungsschiff für die einheimische Bevölkerung beim Aufbau des Landes Hilfe zu leisten.«Und die »Geschichtswerkstatt Gröpelingene.V.« weiß zu berichten:

»So wurde die 'Gröpeln' Ende August 1982 von einem Hapag-Lloyd-Frachtschiff vor Bluefields an der karibischen Küste auf Reede gesetzt, um eine einheimische Überführungsmannschaft an Bord zu nehmen. Bis zur Einfahrt in den weiter südlich gelegenen Rio San Juan unterrichtete der Beauftragte des Bremer Hafenbauamtes Claus Ferner die 'Nicas' in der Bedienung des Fährschiffes. Begleitet wurde die Crew von den deutschen Kameraleuten Manfred Vosz und Valentin Schwab, die einen Dokumentarfilm zu dieser Aktion erstellen wollten.«

Nun hat Manfred Vosz 1983 im Dokumentarfilm »Die nackten Füsse Nicaraguas« (zusammen mit Rolf Neddermann, Drehbuch: Günter Wallraff) auch Filmaufnahmen von der Anlandung der »Gröpeln« an der Karibik-Küste Nicaraguas verwendet. Doch war nicht Manfred Vosz dabei gewesen, sondern ich, und Valentin Schwab hatte für Radio Bremen gefilmt.

Tatsächlich war es auch kein »Hapag-Lloyd-Frachtschiff«, das im Bremer Übersee-Hafen die »Gröpeln« als Decksfracht an Bord genommen hatte, sondern der gechartete Frachter »Globe Trader«, der unter amerikanischer Flagge fuhr.
Und diese Tatsache kreierte vor Bluefields ein Problem. Die einzige Möglichkeit für uns, zu dem auf Reede liegenden Frachter zu gelangen, war die von nicaraguanischer Seite angebotene Nutzung eines in Bluefields stationierten militärischen Schnellbootes. Das aber fuhr unter kubanischer Flagge und unter kubanischem Kommando!
Uns wurde bedeutet, diese Tatsache bitte für uns zu behalten, Kubaner seien nicht in Nicaragua stationiert! Ob nun stationiert oder nur zu Besuch, das kubanische Militärschiff machte nur so lange am schwankenden U.S.-Frachter fest, bis wir über das Fallreep nach oben gekraxelt waren. Das Frachtschiff lag quer zur Küste und machte die sehr langsamen Bewegung der starken Dünung mit. Es kippte stetig von backbord nach steuerbord und zurück.

Zwei bordeigene Kräne hatten die aus Bremen mitgebrachte Decksfracht bereits vorn und hinten gepackt und aus ihrer Verankerung gehoben. Sie begannen jetzt, die »Gröpeln« über die landseitige Bordkante des Frachters hinauszuhängen. Der Kapitän musste nun beim Schwanken seines Schiffes den Moment abpassen, der es erlauben würde, die »Gröpeln« abzusetzen ohne dass diese in die Seite des Frachters krachte. Das Kunststück gelang. Die Fähre aus Bremen berührte zum ersten Mal Karibik-Wasser. Claus Ferner, der aus Bremen entsandte Ingenieur und seine nicaraguanischen Helfern steuerten die »Gröpeln« mit uns zum ersten Stopp an Nicaraguas Küste, an der Mündung des Flusses San Juan, über den es später – ohne uns – hinauf zum Großen See gehen sollte.

In Managua hatte ich zuvor mit dem Minister für das Post- und Fernmeldewesen die Möglichkeit besprochen, für eine Folge meiner Sendereihe »Matinee in Übersee« eine Satelliten-Verbindung zwischen dem Bremer Übersee-Museum und der »Gröpeln« herzustellen, sobald diese ihren Dienst als Versorgungsschiff für die Inselgruppe Solentiname im südlichen Nicaragua-See aufgenommen hätte. Der Minister hiess Enrique Schmidt, er war Doktorand der Universität Bremen gewesen, und natürlich wollte er gerne selber mit an Bord sein, wenn sich die »Gröpeln« noch einmal mit Bremen in Verbindung setzen würde.

Und wie war Enrique Schmidt zu seinem Familiennamen gekommen, und wie nach Bremen?

Schmidts Urgroßvater war der ostpreussische Artilleriehauptmann Wilhelm Schmidt Rauchhaupt. Dieser hatte sich nach dem Deutsch-Französischen Krieg zum Pazifismus bekannt und war deshalb mit zahlreichen anderen Deutschen nach Lateinamerika emigriert. Nach einem Aufenthalt in El Salvador zog er nach Nicaragua. Enrique Schmidt kam als Sohn eines Rechtsanwalts zur Welt. Er wuchs in Corinto auf. Seine Eltern kamen bei dem schweren Erdbeben am 23. Dezember 1972 in Managua ums Leben.
Auf ausdrücklichen Wunsch seines Vaters war Enrique 1967 zum Studium in die Bundesrepublik Deutschland gereist. Während des Studiums lernte er die Spanierin Maria Victoria Urquijo Nuño kennen, die damals als Sprecherin bei der Deutschen Welle arbeitete. Das Paar heiratete und bekam eine Tochter und einen Sohn. Ebenfalls 1974 schloss Schmidt seine Diplomarbeit ab und kehrte in sein Heimatland zurück – mittlerweile war er Mitglied der Frente Sandinista de Liberación Nacional (FSLN) und hatte eine militärische Ausbildung der Palästinensischen Befreiungsorganisation im Nahen Osten absolviert. In der Folgezeit arbeitete Schmidt für Siemens und als Dozent für Nationalökonomie an der Universidad Nacional Autónoma de Nicaragua. Da man ihn verbotener Kontakte zu Gewerkschaften beschuldigte, wurde er im Dezember 1975 verhaftet und im berüchtigten Gefängnis von Tipitapa inhaftiert. Dort war er wochenlanger Folter ausgesetzt, lernte allerdings mit Tomás Borge auch einen Mitbegründer der FSLN kennen.

Schmidts Festsetzung sorgte für internationales Aufsehen. Seine Freunde aus Köln gründeten einen Unterstützerkreis und zahlreiche Politiker der SPD sowie Funktionäre der Evangelischen Kirche in Deutschland – Schmidt war seinerzeit aktives Mitglied des Internationalen Arbeitskreises der Kölner Evangelischen Studierendengemeinde – setzten sich für seine Freilassung ein. Dieser Druck führte schließlich 1977 zur Entlassung, in deren unmittelbarem Anschluss er mit seiner Ehefrau zurück nach Westdeutschland flog. Das Paar zog nach Bremen, wo er an der Universität eine Dissertation zum Thema »Ökonomie und koloniales Erbe – Möglichkeiten und Perspektiven der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung in Mittelamerika« verfasste und schließlich »summa cum laude« promoviert wurde. Ende März 1979 war Schmidt nach Nicaragua zurückgekehrt – dieses Mal, um am entscheidenden Marsch der FSLN auf die Hauptstadt Managua teilnehmen zu können. Er schloss sich den Truppen im Süden des Landes an und war am Ende Panzerfahrer, als den Revolutionären nach Jahren des Guerillakampfes am 19. Juli die Machtübernahme gelang. Während des Wiedererrichtens der staatlichen Strukturen wurde er mit der Umorganisation des Innenministeriums beauftragt. Anschließend war er als Polizeichef von Managua tätig, bevor ich ihn 1982 als Minister für das Post- und Fernmeldewesen traf.

Und was war mit der »Gröpeln«, von der aus sich Enrique Schmidt gerne noch einmal per Satellit in Bremen hatte melden wollen? 1982 hatte ich mir das Seen-Gebiet von Solintename angesehen, die Inselwelt, in der Ernesto Cardenal lebte, und in der die Gröpeln aus Bremen Fährdienste leisten sollte.

Ich reiste mit Susan Meiselas von Insel zu Insel. Die amerikanische Fotografin hatte das Symbolbild der nicaraguanischen Revolution festgehalten, später als "Molotov-Man" sogar als Denkmal verewigt.

 






Mit Susan traf ich auf einer der Inseln ein Paar, das sich gerne von ihr fotografieren ließ. ...


Susan schenkte ihnen das Polaroid-Foto ...

Ich aber entdeckte ein paar Stunden später auf der selben Insel einen Maler, der gerade im Stile der durch Ernesto Cardenal weltweit bekanntgemachten "Solintename-Kunst" ein Bild fertigstellte, das ganz offensichtlich seine Nachbarn zeigte.

Ich kaufte es - noch öl-frisch - Rudolfo Arellanos ab.
                                        


Und die »Gröpeln«?

Sie erreichte nie dieses Gewässer! Wegen Niedrigwassers blieb sie zunächst in einer Biegung des Flusses San Juan hängen. Im Mai 1983 entdeckten Contras von Edén Pastora das Schiff und beschossen es mit Granatwerfern. Wochen danach fragte Valentin Schwab bei mir an, ob ich für Radio Bremen noch einmal versuchen könnte, zusammen mit ihm in Nicaragua den Zustand der »Gröpeln« zu filmen.
In jenen Monaten ließen mir die Vorbereitungen für eine Vietnam-Ausstellung des Übersee-Museums keine Zeit; ich musste ablehnen.


Valentin Schwab reiste mit der Lebensgefährtin von Manfred Vosz, Heidrun Lotz. Am Wrack der »Gröpeln« gerieten beide mit ihren nicaraguanischen Begleitern unter Beschuss der Contras. Heidrun Lotz verlor ein Auge, auch Valentin Schwab wurde verwundet. Die Contras entführten beide nach Costa Rica. Ich veranlasste Radio Bremen, in der »Tagesschau« eines meiner Fotos von Valentin Schwab mit der Nachricht von der Entführung der beiden Filmemacher zu veröffentlichen. Nach mühseligen Verhandlungen, hauptsächlich geführt von Manfred Vosz, gaben die Contras ihre Geiseln frei.



Ein Jahr später, im November 1984, wurde Enrique Schmidt bei einem Kampf mit den Contras getötet. Nach Bekanntwerden seines Todes kam es in Bremens Innenstadt zu einer spontanen Studentendemonstration, nahe der Universität Bremen wurde später eine Straße nach ihm benannt.



Und die »Gröpeln«?


1986 waren Schiffsingenieur Claus Ferner und Kapitän Hans-Joachim Knie auf Bitten des Deutschen Roten Kreuzes von der Bremer Landesregierung zur Bergung und Reparatur des früheren Fährschiffes nach Nicaragua geschickt worden. ... Das marode Schiff soll letztlich von einem einheimischen Werftbesitzer gekauft, ihr Blech zu Kochtöpfen verarbeitet worden sein.
 


Fotos:
zitierte Webseiten / KJS-RB-Film

Info:
https://www.musenblaetter.de/artikel.php?aid=12787&suche=Zelter

https://www.geschichtswerkstatt-groepelingen-bremen.de/videos/die-gr%C3%B6peln-in-nicaragua/