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Kategorie: Lust und Leben
Silhouette des Hammering Man in FrankfurtReminiszenzen an Vorgestern

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Weihnachten ist eine ganz besondere Sache.

Im Alter von 12 Jahren beging ich es zum letzten Mal. Dann reichte es meinen Eltern – und mir auch. Geschenke bekam ich dennoch, sie wurden lediglich übers Jahr verteilt. Seinerzeit entstand meine Devise: Ignoriere das Getue der anderen. Doch die Feierlichkeiten einschließlich ihrer Vorbereitungen fallen in eine Jahreszeit, die völlig unattraktiv, sogar unerotisch ist und durch Weihnachtsmänner, Tannenbäume und primitiven Singsang einen falschen und unangemessenen Glanz erhält. Das sind die Augenblicke, in denen ich mich in die objektive Hässlichkeit meiner Heimat, des Ruhrgebiets, zurücksehne, die ich1975 endgültig verlassen habe. Die graue Tristesse der Industriearchitektur kann selbst von geschmacklos dekorierten Tannenbäumen nicht neutralisiert werden. Sie bleibt hässlich, gewinnt dadurch aber an Ehrlichkeit. Vor allem Ende der 70er und zu Anfang der 80er Jahre, als der Kohlenpott noch von Kohle, Eisen und Bier geprägt war, hielt ich es in der jeweils neuen Heimat nicht mehr aus.

Also kündigte ich meinem Freund Jürgen in Dortmund den Besuch von mir und meiner Frau an. Er, der ebenfalls Gottlose und für die Erlösung Verlorene, begann daraufhin die Platten zu sortieren, die wir uns bei unseren Treffen üblicherweise anhören (Franz Josef Degenhardt, Hans-Dieter Hüsch, Joan Baez, Pete Seeger, Dieter Süverkrüp, Hannes Wader) und stellte das Bier kalt. Am frühen Nachmittag des 24. Dezembers, unsere Frauen waren von ihrer Wallfahrt durch diverse Modeläden noch nicht zurückgekehrt, starteten wir zur Tour kreuz und quer durch Dortmund.

Aus dem Kreuzviertel ging es zunächst zum Theater und dann weiter zum Hauptbahnhof. Das Auto parkten wir unweit des Nordausgang. Dieses Revier war uns aus der Schüler- bzw. Zivildienstzeit gut vertraut. Der erste Abstecher zu Fuß ging zur Linienstraße, wo wir einen informellen Blick in den Puff warfen. Doch auch dort gab es nichts Neues unter der Sonne. Aus einigen Fenstern blinkten farbige Lichterketten. Die fromme Stammkundschaft aus dem Sauerland und dem Münsterland erwartete das anscheinend. Mit der Feststellung, dass sich mindestens an einem Ort kaum etwas ändern wird, schlugen wir einen Bogen in Richtung Uhlandstraße und Schützenstraße.

Im Schaukasten der gemeinsamen Geschäftsstelle von DKP und SDAJ in der Baumstraße, die von Insidern „Politbüro“ genannt wurde, hing ein Plakat. Auf schwarzem Hintergrund verliefen zwei hohe Wellen, die obere rot, die untere goldfarben. In weißer Schrift war ein Gedicht einkopiert:

„Kinder, was ist der Himmel so rot!
Das sind Marx und Engels,
sie backen Früchtebrot,
Kekse und Stuten
für kleine Leckerschnuten.“

Eigentlich hätte ich von Kommunisten einen Auszug aus Marx‘ Schrift „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ erwartet, vor allem den Abschnitt über Religion: „Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks...Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.“

„Die Christen wählen euch doch nie“, meinte Jürgen, „warum passt ihr euch an?“. Und er fügte hinzu „Die SPD macht ähnliche Fehler, wenn sie sich bei Kapitalisten einschleimt.“ Damals lag die SPD in Nordrhein-Westfalen noch gut im Rennen, war Regierungspartei. Das änderte sich erst, als die Grünen Juniorpartner wurden. „Wenn Grün zu Rot kommt, wird’s bald schwarz“, so unsere übereinstimmende Meinung.

Es begann zu nieseln. „Ein Scheißfest mit Scheißwetter“ schimpfte Jürgen. Eilig gingen wir zum Auto zurück. „Fahren wir weiter nach Eving“, schlug mein Freund vor. Da gibt’s gleich ein Ständchen von Bergleuten. Ich schaltete das Radio ein, um durch Musik die Stimmung aufzulockern. Auf WDR 2 gab es eine literarische Lesung. Von Josef Reding, einem Dortmunder Jungen älteren Jahrgangs, wurde eine „Krippenrede“ vorgelesen:

„Also werd‘ nicht so
wie dieser da,
in unklaren Familienverhältnissen
unterwegs geboren.

Na ja dafür kann
er nichts;
ist keine Schande,
doch auch nichts
Rühmliches.

Aber dann,
als er dreißig war,
hatte er
keine Ausbildung,
kein Auskommen,
keine Rücklagen,
keine Wohnung,
kein Reittier
oder Fahrzeug.
Und auch für die Ehe
war er offenbar
untauglich.

Was blieb ihm da
übrig als über
Land zu ziehen,
langhaarig,
schmuddelig,
barfüßig.
Eine Klicke
von Fans bei sich,
die ihre Familien
und Berufe im Stich
gelassen hatten.

Und dann wiegelte
er das Volk auf
mit doppeldeutigen
Reden und
gefährlichen Geschichten...“

Gerade als es besonders spannend wurde, hatten wir eine Empfangsstörung.

Dieses Gedicht von Josef Reding kannte ich bis dahin nicht. Aber er selbst war mir nicht unbekannt. Mitte der 60er Jahre hatte ich ihn persönlich kennengelernt auf einer Autorenlesung der »Dortmunder Gruppe 61«, einer Gruppe von Schriftstellern, die in ihrer Prosa und Lyrik die Arbeitswelt schilderten. Reding war ein linker Katholik, möglicherweise der einzige auf der Welt. Und einer der wenigen Autoren, die auch Heftromane verfasst hatten.

Der Regen hatte aufgehört. Wir parkten unmittelbar vor dem Maschinengebäude der Zeche „Minister Stein“ in Dortmund-Eving. Der Bergarbeiter-Chor hatte sich bereits versammelt. Nach wenigen Minuten erklang das erste Lied: „Vom Himmel hoch, da komm‘ ich her.“ Das konnte nicht stimmen, denn die Bergleute, schienen gerade aus dem Schacht hochgefahren zu sein, steckten noch in ihren Arbeitsklamotten und waren schwarz vom Kohlenstaub. Na ja, Weihnachten ist eben ein fauler Zauber.

Wir fuhren weiter nach Derne. Dort befand sich die größte Zechenanlage Dortmunds, die Zeche Gneisenau. Der Parkplatz für Betriebsangehörige war fast vollständig leer. Also stellten wir den Wagen dort ab. Unmittelbar daneben lag die Gaststätte „Bei Tilla“, wo wir uns eine Pause gönnen wollten: Mettbrötchen mit Pils. Nach draußen dröhnte ganz unweihnachtliche Musik. Wir kehrten ein und hörten genauer hin. Aus der Musikbox, die offensichtlich schon bessere Zeiten erlebt hatte, klang eine Platte, die der Ruhrgebietspoet Jürgen von Manger („Der Schwiegermuttermörder“) in den späten 70ern aufgenommen hatte:

„Dortmunder Bier
und du fängs' dann schnell am Singen;
hier im Revier
tun de Gläser kräftig klingen,
der Gerstensaft
gibt Dir wieder neue Kraft,
wenn‘ze abgeschlafft.“

Gesungen wurde das Lied nach der Melodie von „Griechischer Wein“, einem der großen Hits von Udo Jürgens. Wir aßen je zwei Mettbrötchen und tranken je zwei Pils, ließen uns von der guten Stimmung anstecken und sangen mit. Der Refrain des Schlagers wurde laufend gewechselt. Mal ging es um Dortmunder Bier, mal um Bocher, mal um Bottroper. Die Gäste waren überwiegend Püttrologen, einige stammten aus Italien und Jugoslawien. „Das war ein richtig schöner Heiligabend“, meinte Jürgen, als wir die Kneipe wieder verließen. Es ging auf 17:00 Uhr zu, war bereits dunkel und wir wollten in Jürgens Wohnung die Bescherung nicht versäumen. Wobei „Bescherung“ zu viel gesagt ist. Ingrid, Jürgens Frau, hatte ein Abendessen nach westfälischer Art zubereitet. Pannas (auch Panhas genannt) und Möpkenbrot mit Bratkartoffeln, als Beilage gab es Rübenkraut. „Wenn das der Herr Jesus probiert hätte, wäre er mit Sicherheit in Dortmund aufgetreten“, meinte Jürgen. Nach dem Essen legten wir Platten auf. Als erste die Persiflage eines alten Weihnachtslieds:

„O Tannenbaum! O Tannenbaum!
Der Kaiser hat in Sack gehaun.
Da kauft er sich ´nen Henkelmann
und fängt bei Krupp als Dreher an.
O Tannenbaum! O Tannenbaum!
Der Kaiser hat in Sack gehaun.

O Tannenbaum! O Tannenbaum!
Der Wilhelm hat in Sack gehaun.
Auguste muß Kartoffeln stehl´n,
der Kronprinz muß Granaten drehn.
O Tannenbaum! O Tannenbaum!
Der Wilhelm hat in Sack gehaun.

In dieser Fassung hatte man es Weihnachten 1918 gesungen. Danach war Dieter Süverkrüp dran mit „Leise schnieselt der Reaktionär“. Anschließend kamen die anderen Helden aus einer bereits damals zurückliegenden Epoche zu Wort bzw. zu Gesang. So feierten wir den Heiligen Abend. Als wir am nächsten Morgen wieder nüchtern waren, schworen wir uns, dieses Fest abzuschaffen, falls die politischen Mehrheitsverhältnisse das gestatteten. Bislang gestatten sie es (leider) nicht.

Foto:
Silhouette des „Hammering Man“ in Frankfurt a.M.
© MRG